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Ernst A. Schmidt
nicht vor, und zwar deshalb nicht: Ovid erzählt seine Geschichten aitiolo-
gisch, und ihr Resultat, die neue Gestalt als Metapher, soll neben seiner
metaphorischen Bedeutung gerade auch sein Aition vermitteln. Dieses
Aitiologische ist durch die erzählerische Vermittlung zur Metapher hin
poetisch sinnfällig geworden, eben durch das neue Sehen von Ähnlichkei-
ten, „das genial-erfinderische Herausfinden von Gemeinsamkeiten“33 34
zwischen Person und Geschehen einerseits und Metapher andererseits
vermittels der gestaltenden und deutenden Erzählung in und vor der
Verwandlung. Es ist gerade dieses Aitiologische, was die Metaphern
plausibel und lebendig macht. „Diese Gleichnisreden sind artig und un-
terhaltend, und wer spielt nicht gern mit Ähnlichkeiten?“ sagt Charlotte
in den Wahlverwandtschaften.^ Und wer kann sich dem produktiven,
Ähnlichkeiten in poetischem und bedeutendem Spiel herstellenden Spie-
ler Ovid verschließen? Die Verwandlung geht nicht in die Bedeutung der
Metapher selbst ein, sondern ist deren mitvorgestellter Entstehungs-
grund als narrative Ähnlichkeitsvermittlung. Motivation und narrative
Funktion der Verwandlung wie Strafe oder Lohn, Rettung oder Erlösung
können aber durchaus in die Metapher mit eingehen.
Es empfiehlt sich wohl, zwischen narrativer Funktion der Metamor-
phose und damit vor allem dem Prozeß der Verwandlung und ihrer me-
taphorischen Bedeutung und damit vor allem dem Resultat, der neuen
Gestalt, begrifflich zu scheiden, so sehr die beiden Aspekte ineinander-
gehen können. Man stelle zu den o. S. 59 zitierten Charakteristiken, die
Galinsky (1975), Ovid’s Metamorphoses von der Metamorphose gibt,
diese Äußerung aus dem gleichen Buch (S. 13): „One obvious character-
istic of metamorphosis is that, by its very nature, it eliminates a true
solution to the moral issues raised by the myths.“ Ein Widerspruch liegt
deshalb nicht vor, weil er oben von der metaphorischen, hier von der
narrativen Funktion der Metamorphose handelt. Andererseits ist zu be-
denken, daß eine Verwandlung, welche als Rettung oder Rache narrativ
zugleich „avoidance of a true moral solution“ (a. O.) ist, im Sinnbild der
neuen Gestalt auch den moralischen Konflikt, das psychische Dilemma,
die Unlösbarkeit eines Zwiespalts festhaltcn kann, wie ebenso die meta-
phorische Funktion der Metamorphose dort mit der narrativen nahezu
zusammenfällt, wo gleichsam bloße Fort- und Festschreibungen eines
Charakters, Habitus, Schicksals vorliegen.
33 Gadamer (19652), Wahrheit und Methode, S. 409 zur metaphorischen Leistung der
Sprache.
34 Goethe, Die Wahlverwandtschaften, ed. 1987, S. 318.
Ernst A. Schmidt
nicht vor, und zwar deshalb nicht: Ovid erzählt seine Geschichten aitiolo-
gisch, und ihr Resultat, die neue Gestalt als Metapher, soll neben seiner
metaphorischen Bedeutung gerade auch sein Aition vermitteln. Dieses
Aitiologische ist durch die erzählerische Vermittlung zur Metapher hin
poetisch sinnfällig geworden, eben durch das neue Sehen von Ähnlichkei-
ten, „das genial-erfinderische Herausfinden von Gemeinsamkeiten“33 34
zwischen Person und Geschehen einerseits und Metapher andererseits
vermittels der gestaltenden und deutenden Erzählung in und vor der
Verwandlung. Es ist gerade dieses Aitiologische, was die Metaphern
plausibel und lebendig macht. „Diese Gleichnisreden sind artig und un-
terhaltend, und wer spielt nicht gern mit Ähnlichkeiten?“ sagt Charlotte
in den Wahlverwandtschaften.^ Und wer kann sich dem produktiven,
Ähnlichkeiten in poetischem und bedeutendem Spiel herstellenden Spie-
ler Ovid verschließen? Die Verwandlung geht nicht in die Bedeutung der
Metapher selbst ein, sondern ist deren mitvorgestellter Entstehungs-
grund als narrative Ähnlichkeitsvermittlung. Motivation und narrative
Funktion der Verwandlung wie Strafe oder Lohn, Rettung oder Erlösung
können aber durchaus in die Metapher mit eingehen.
Es empfiehlt sich wohl, zwischen narrativer Funktion der Metamor-
phose und damit vor allem dem Prozeß der Verwandlung und ihrer me-
taphorischen Bedeutung und damit vor allem dem Resultat, der neuen
Gestalt, begrifflich zu scheiden, so sehr die beiden Aspekte ineinander-
gehen können. Man stelle zu den o. S. 59 zitierten Charakteristiken, die
Galinsky (1975), Ovid’s Metamorphoses von der Metamorphose gibt,
diese Äußerung aus dem gleichen Buch (S. 13): „One obvious character-
istic of metamorphosis is that, by its very nature, it eliminates a true
solution to the moral issues raised by the myths.“ Ein Widerspruch liegt
deshalb nicht vor, weil er oben von der metaphorischen, hier von der
narrativen Funktion der Metamorphose handelt. Andererseits ist zu be-
denken, daß eine Verwandlung, welche als Rettung oder Rache narrativ
zugleich „avoidance of a true moral solution“ (a. O.) ist, im Sinnbild der
neuen Gestalt auch den moralischen Konflikt, das psychische Dilemma,
die Unlösbarkeit eines Zwiespalts festhaltcn kann, wie ebenso die meta-
phorische Funktion der Metamorphose dort mit der narrativen nahezu
zusammenfällt, wo gleichsam bloße Fort- und Festschreibungen eines
Charakters, Habitus, Schicksals vorliegen.
33 Gadamer (19652), Wahrheit und Methode, S. 409 zur metaphorischen Leistung der
Sprache.
34 Goethe, Die Wahlverwandtschaften, ed. 1987, S. 318.