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Schmidt, Ernst A.; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1991, 2. Abhandlung): Ovids poetische Menschenwelt: die Metamorphosen als Metapher und Symphonie ; vorgetragen am 3. Juni 1989 — Heidelberg: Winter, 1991

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https://doi.org/10.11588/diglit.48162#0071
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Ovids poetische Menschenwelt

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Sehnsucht und Unerlöstheit, sondern ihre Erlösung. Auch die Tränen,
die Myrrha erst als Baum weint, sind nicht Zeichen ewigen Schmerzes -
nicht eine Trauernde wurde verwandelt-, sondern der Lösung. Myrrha
wird von sich befreit, sie wird in eine neue Form erlöst. Daß sie ihre
„veteres sensus“ verliert, heißt nicht speziell, daß sie ihr Verlangen nach
Inzestliebe verliert, sondern daß sie aufhört, das menschliche Wesen zu
sein, das sie war: sie wird von aller Last ihrer Existenz, zuletzt von
Scham, Reue, Lebensekel befreit.
Die in einen Baum verwandelte Myrrha weint, Zeichen und Spur
menschlichen Bewußtseins, auch des Bewußtseins der Erlösung oder
doch deren Ausdruck. Wie aber steht es mit den anderen Weinenden in
den Metamorphosen, den Heliaden, die um ihren Bruder Phaethon trau-
ern und in Bernstein weinende Pappeln verwandelt werden (met. 2,340-
366), mit Niobe, die ein weinender Fels wird (met. 6,301-312), mit Byb-
lis, die sich in eine Quelle auflöst (met. 9,649-665)? Sind das Erlösungen
von Schmerz und Trauer oder deren Verewigungen? Ovid hat in keiner
dieser drei Geschichten narrativ die Verwandlung als Erlösung darge-
stellt. Was wir erzählerisch vorfinden, ist eher die Metamorphose als die
letzte Konsequenz einer zum Dauerzustand gewordenen inneren Ex-
tremsituation, wo allerdings schon jener Dauerzustand auch eine Entla-
stung vom Leid bedeutet hatte. Die Metamorphosengestalt könnte dann
als Realmetapher einer psychischen Erstarrung gelesen werden, in der
Leidensdruck und Erlösung dialektisch Zusammenwirken, und diese
Metapher ,verewigt1 die Pointe der Geschichten.37
37 Zum vorstehenden Kapitel insgesamt ist Solodow (1988), World of the Metamorphoses,
S. 157-202 (= Chapter 5: „Metamorphosis“) zum Vergleich heranzuziehen. Es zeigte
sich, daß eine detaillierte Dokumentation der Übereinstimmungen und der Divergen-
zen zu umständlich geworden und eine Auseinandersetzung ohne Darstellung des Ge-
samtzusammenhangs unbefriedigend geblieben wäre. Ich gebe hier nur das wichtigste
Zitat (S. 174): „What is metamorphosis? It is clarification. It is a process by which cha-
racteristics of a person, essential or incidental, are given physical embodiments and so
are rendered visible and manifest. Metamorphosis makes plain a person’s qualities, yet
without passing judgment on them. It is - and this constitutes a central paradox of the
poem - a change which preserves, an alteration which maintains identity, a change of
form by which content becomes represented in form.“ Auf den Seiten, die folgen, er-
gänzt Solodow, daß es nicht immer der Charakter sei, den die Metamorphose kläre und
fixiere, sondern auch eine Tätigkeit, ein Gefühl, eine Geschichte, eine Beziehung sein
könne (S. 180). Er betont immer wieder diese drei Aspekte an der ovidischen Metamor-
phose: „clarification“, „continuity“, „permanence“ (z.B. S. 183). Vgl. auch S. 36: „The
stories strive towards a kind of pictorial realization, which is usually found in metamor-
phosis. [...]. The poem [. . .] moves from narrative towards image, from story to icon.
Ovid delights in exploring the relationship between the two.“
 
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