198
Wolfgang Raible
Der erste, der damit konfrontiert wurde und damit gearbeitet hat, war
Ralph Ludwig. Er legte 1981 seine Freiburger Staatsexamensarbeit vor,
in der der Ausdruck der Kausalität, Finalität und Konzessivität in münd-
lichen französischen Texten untersucht wurde. Das Besondere an dieser
Arbeit war, neben dem Ausgehen von einer Skala mit Techniken zwi-
schen den Polen der Aggregation und der Integration, eine Differenzie-
rung nach verschiedenen Typen (selbst aufgenommener und transkri-
bierter) mündlicher Texte: familiäres Gespräch, Live-Diskussion im
Fernsehen, Rundfunk-Interview mit einem Politiker und ein aufgrund
von Notizen des Dozenten relativ frei gehaltener „cours magistral de
littérature“ über das altfranzösische Rolandslied. Ludwig berücksich-
tigte also bei seinen mündlichen Texten implizit bereits das, was Peter
Koch und Wulf Oesterreicher (1985) als den konzeptionellen Aspekt
von Mündlichkeit und Schriftlichkeit bezeichnet haben. Das Ergebnis
der Arbeit Ludwigs war recht eindeutig. Die untersuchten Relationen
bleiben im familiären Gespräch in aller Regel implizit. Der aggregative
Stil dominiert. In der politischen Live-Diskussion, wo die Gesprächsbei-
träge in stärkerem Maße geplant und reflektiert sind (und wo der Wille,
verstanden zu werden und „anzukommen“, beträchtlich ist), werden
Junktionstechniken bis zur Technik IV des Faltblattes verwendet. Nur
der Literaturprofessor in Grenoble versteigt sich in seinem freien Vor-
trag ab und zu zu Junktionen der Techniken V oder gar VI12.
Dieser Befund war sehr aufschlußreich. Schon Wolf-Dieter Stempel
hatte (1964) gezeigt, daß in altfranzösischen Texten das Vorkommen
von Subordination insbesondere von den Anforderungen abhängt, die
die jeweilige Gattung stellt. In der epischen Dichtung wird kaum argu-
12 Bei Hofmann/Szantyr 1972:528 findet sich folgender Passus: „Die volks- und umgangs-
sprachliche Abneigung gegen den Periodenbau aus vollausgebildeten Nebensätzen mit
Subordinationswörtern erklärt sich teils aus der für den Alltagssprecher typischen
Denkträgheit und dem Streben nach Energieeinsparung, teils aus der im gefühlsbeton-
ten Charakter der Alltagsrede begründeten Vorliebe für abgehackte, der stoßweisen
Entlastung des Affekts entsprechenden Äußerungen in Form von Hauptsätzen; die An-
deutung der innerlichen gegenseitigen Abhängigkeit dieser Hauptsätze wird dabei (. . .)
den außersprachlichen Mitteln überlassen.“ - Solche doch sehr negativen und holz-
schnittartigen Urteile über die „Volks- und Umgangssprache“, die letztlich aus der idea-
listischen Neuphilologie stammen, relativieren sich, wenn man zum einen von einer
Skala von Techniken zwischen Aggregation und Integration ausgeht, nicht von einer
Perspektivierung auf das entweder/oder von Koordination und Subordination; und
wenn man zudem die konzeptionellen Voraussetzungen und Anforderungen mit in die
Betrachtung einbezieht, die hinter der Skala zwischen Sprechhandlung und Sprachwerk
im Sinne Bühlers stehen.
Wolfgang Raible
Der erste, der damit konfrontiert wurde und damit gearbeitet hat, war
Ralph Ludwig. Er legte 1981 seine Freiburger Staatsexamensarbeit vor,
in der der Ausdruck der Kausalität, Finalität und Konzessivität in münd-
lichen französischen Texten untersucht wurde. Das Besondere an dieser
Arbeit war, neben dem Ausgehen von einer Skala mit Techniken zwi-
schen den Polen der Aggregation und der Integration, eine Differenzie-
rung nach verschiedenen Typen (selbst aufgenommener und transkri-
bierter) mündlicher Texte: familiäres Gespräch, Live-Diskussion im
Fernsehen, Rundfunk-Interview mit einem Politiker und ein aufgrund
von Notizen des Dozenten relativ frei gehaltener „cours magistral de
littérature“ über das altfranzösische Rolandslied. Ludwig berücksich-
tigte also bei seinen mündlichen Texten implizit bereits das, was Peter
Koch und Wulf Oesterreicher (1985) als den konzeptionellen Aspekt
von Mündlichkeit und Schriftlichkeit bezeichnet haben. Das Ergebnis
der Arbeit Ludwigs war recht eindeutig. Die untersuchten Relationen
bleiben im familiären Gespräch in aller Regel implizit. Der aggregative
Stil dominiert. In der politischen Live-Diskussion, wo die Gesprächsbei-
träge in stärkerem Maße geplant und reflektiert sind (und wo der Wille,
verstanden zu werden und „anzukommen“, beträchtlich ist), werden
Junktionstechniken bis zur Technik IV des Faltblattes verwendet. Nur
der Literaturprofessor in Grenoble versteigt sich in seinem freien Vor-
trag ab und zu zu Junktionen der Techniken V oder gar VI12.
Dieser Befund war sehr aufschlußreich. Schon Wolf-Dieter Stempel
hatte (1964) gezeigt, daß in altfranzösischen Texten das Vorkommen
von Subordination insbesondere von den Anforderungen abhängt, die
die jeweilige Gattung stellt. In der epischen Dichtung wird kaum argu-
12 Bei Hofmann/Szantyr 1972:528 findet sich folgender Passus: „Die volks- und umgangs-
sprachliche Abneigung gegen den Periodenbau aus vollausgebildeten Nebensätzen mit
Subordinationswörtern erklärt sich teils aus der für den Alltagssprecher typischen
Denkträgheit und dem Streben nach Energieeinsparung, teils aus der im gefühlsbeton-
ten Charakter der Alltagsrede begründeten Vorliebe für abgehackte, der stoßweisen
Entlastung des Affekts entsprechenden Äußerungen in Form von Hauptsätzen; die An-
deutung der innerlichen gegenseitigen Abhängigkeit dieser Hauptsätze wird dabei (. . .)
den außersprachlichen Mitteln überlassen.“ - Solche doch sehr negativen und holz-
schnittartigen Urteile über die „Volks- und Umgangssprache“, die letztlich aus der idea-
listischen Neuphilologie stammen, relativieren sich, wenn man zum einen von einer
Skala von Techniken zwischen Aggregation und Integration ausgeht, nicht von einer
Perspektivierung auf das entweder/oder von Koordination und Subordination; und
wenn man zudem die konzeptionellen Voraussetzungen und Anforderungen mit in die
Betrachtung einbezieht, die hinter der Skala zwischen Sprechhandlung und Sprachwerk
im Sinne Bühlers stehen.