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Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2008 — 2009

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I. Das Geschäftsjahr 2008
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Jahresfeier am 14. Juni 2008
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Niehrs, Christof: Dialektik der embryonalen Induktion
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https://doi.org/10.11588/diglit.67591#0044
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7 4. Juni 2008

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Durchdringung der Gegensätze
In der holistischen Weltschau des Dialektikers sind alle Dinge des Universums mit-
einander verknüpft, sie stehen in kausaler Beziehung, so schwer nachweisbar oder
schwach ausgeprägt diese Interaktionen im Einzelfall auch sein mögen. Linearen
Ketten von Ursache und Wirkungsbeziehungen setzt er Netzwerke entgegen, wo
Subjekt und Objekt, Ursache und Wirkung ineinander übergehen. Diese Sicht ist
eng verwandt mit der von systemtheoretisch denkenden Biologen (Levins and
Lewontin, 1985; Riedl, 1975), wonach beispielsweise Organismen nicht nur Objek-
te der Evolution sind, die sich an ein Habitat anpassen, sondern gleichzeitig auch
Subjekte, die ihre Umwelt verändern und damit neue Anpassungen erzwingen. Der
Sauerstoff der Erdatmosphäre ist z. B. das Produkt der Evolution photosynthetischer
Bakterien und Algen und steuerte die Evolution in eine ganze neue Richtung.
Organismen sind somit zugleich Ursache und Wirkung ihrer eigenen Evolution.
Im Fall der embryonalen Induktion finden wir ebenfalls solche kausalen Rück-
kopplungen. Die bei der Induktion wirksamenWachstumsfaktoren sind nicht nur auf
einen einzelnen Induktionsprozess beschränkt, sondern fungieren wie ein molekula-
res Universalwerkzeug in verschiedenen Entwicklungsprozessen und auch beim
erwachsenen Tier und Mensch, sei es im Immunsystem oder im Gehirn. Das bedeu-
tet aber, dass all diese biologischen Teilsysteme evolutionär gekoppelt sind, denn
Mutationen in Genen für solche Wachstumsfaktoren und den von ihnen regulierten
Signalkaskaden prägen sich gleichzeitig in verschiedenen Organen aus. Der Biologe
nennt dies pleiotrope Mutationen. Eine Maus mit einer Mutation in dem Spemann
Organisatorgen Dickkopf weist gleichzeitig Missbildungen im Kopf, den Extremitäten
und dem Skelett auf (Mukhopadhyay et al., 2001). Durch diese Kopplung verwischen
sich jedoch lineare Ursache-Wirkungsbeziehungen. Das Skelett, dass in der embryo-
nalen Entwicklung zeitlich und kausal der Wirkung des Spemann-Organisators nach-
geordnet ist, kann als ein dem Selektionsdruck ausgesetztes Organ in evolutiven Zeit-
räumen selbst wieder zur Ursache für Veränderungen des Spemann-Organisators wer-
den. Die Konsequenz aus dieser Pleiotropie ist Koevolution solcherart gekoppelter
Organe (Riedl, 1975; Schlichting and Pigliucci, 1998; Wagner, 1984)
Zufall und Notwendigkeit
Die embryonale Induktion und Dialektik sind je nach Blickpunkt entweder zielge-
richtet (deterministisch), oder aber dem Zufall unterworfen (kontingent). Wenn wir
eine einzelne Tierspezies betrachten, z.B. den Krallenfrosch, so findet die Abfolge der
embryonalen Induktionen in gesunden Individuen stets reproduzierbar statt, so dass
als Ergebnis der Entwicklung in erster Näherung das immer gleiche adulte Tier mit
seiner charakteristischen Morphologie entsteht. Der Artbegriff ist geradezu eine
Konsequenz der deterministischen Embryonalentwicklung.
Anders liegen die Dinge wenn wir in evolutionären Epochen denken, denn
hier ist das Ergebnis der embryonalen Induktion historisch dem Zufall unterworfen.
Krallenfrosch und Mensch stammen beide von einem lange ausgestorbenen gemein-
samen Vorfahren ab, einem Urvertebraten, der eine deterministische Embryonalent-
 
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