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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2008 — 2009

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I. Das Geschäftsjahr 2008
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Jahresfeier am 14. Juni 2008
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Niehrs, Christof: Dialektik der embryonalen Induktion
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https://doi.org/10.11588/diglit.67591#0045
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JAHRESFEIER

wicklung aufwies. Genmutationen im Urvertebraten und seinen Nachkommen
führten aber zu Variationen in der embryonalen Entwicklung, die durch die natürli-
che Auslese fixiert wurden. Auf diese Weise entstand so im Laufe von Jahrmillionen
die Vielfalt der Wirbeltierarten. Die embryonale Induktion ist daher aus ontogeneti-
scher Sicht deterministisch, aus phylogenetischer Sicht jedoch unvorhersehbar.
Ähnlich dualistisch ist die Dialektik. Einerseits wird Hegel nicht müde von der
absoluten Idee, der Vorsehung und dem Weltgeist zu sprechen, unter deren Einfluss
sich die Wirklichkeit formt. Andererseits räumt er dem Zufall seinen Platz ein, indem
er die Autonomie des Menschen und seine innere Freiheit für gesetzt annimmt. Die
Freiheit des Menschen, und damit das Unvorhersehbare, steht aber im Widerspruch
zu Hegels Determinismus. Diesen Widerspruch hebt Hegels Ideenverwalter Engels
wie folgt auf:
In der geschichtlichen Entwicklung spielt die Zufälligkeit ihre Rolle, die im dialektischen
Denken wie in der Entwicklung des Embryos sich in Notwendigkeit zusammenfaßt.
(Engels, 1955)
In diesem bemerkenswerten Satz vergleicht Engels die biologische Stammesge-
schichte, die dem Zufall unterworfen ist, mit der historischen Entwicklung. In der
deterministischen Entwicklung des Embryos manifestiert sich die zufällige Stam-
mesgeschichte. Der menschliche Embryo hat Kiemen und Schwanzanlagen, weil er
von einem amphibischen Vorfahren abstammt. Die Embryonalentwicklung als Reka-
pitulation der Stammesgeschichte, Ernst Haeckels berühmtes biogenetisches Grund-
gesetz, kommt hier zum Ausdruck. So wie der Embryo die Stammesgeschichte not-
wendig rekapituliert, so ist beim Dialektiker der im Einzelnen dem Zufall unter-
worfene Geschichtsablauf, langfristig ein deterministischer, auf ein Ziel
hinsteuernder Prozess. Mithin sind sowohl bei der embryonalen Entwicklung als
auch der Dialektik Zufall und Notwendigkeit dualistisch wirksam.
Holismus
Die Dialektik ist ihrem Wesen nach ein holistischer Ansatz und Ähnliches gilt für die
Biologie. So schrieb der Evolutionsbiologe Theodor Dobzhansky: Nothing in biology
makes sense except in the light of evolution. So spektakuläre Erfolge der reduktionistische
Ansatz in der Biologie feiert, das „Warum“ (Warum induziert ausgerechnet die
Urmundlippe die Neuralplatte?), das „So-und-nicht-anders“ sein erklärt der Reduk-
tionismus nicht. Ein vollständiges Begreifen biologischer Zusammenhänge gelingt
nur in der Gesamtschau des historischen Ablaufs der Evolution. Ihrem tiefsten
Anspruch nach, nämlich Kausalketten der Natur vollständig zu erklären, sind die
Biologie und auch die Physik, bezieht man die Kosmogenie ein, holistische Wissen-
schaften.
Isomorphie von Dialektik und embryonaler Induktion
Wir halten fest, dass es eine Reihe von formalen Ähnlichkeiten zwischen Hegels und
Engels Dialektik und der embryonalen Induktion gibt. Bei dieser Ähnlichkeit könn-
 
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