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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2008 — 2009

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I. Das Geschäftsjahr 2008
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Sitzung der Phil.-hist. Klasse am 24. Oktober 2008
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Zimmermann, Bernhard: Mythos und Geschichte: zur Darstellung und Funktion von Vergangenheit in den dionysischen Gattungen Athens
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https://doi.org/10.11588/diglit.67591#0086
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24. Oktober 2008

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mythische Vergangenheit, z. B. auf die Stadtgeschichte, geöffnet, oder der aktuelle
Anlass, das Fest zu Ehren des Gottes Dionysos, in einer mythischen Ebene widerge-
spiegelt. Die Funktion der Vergangenheitsbezüge im Dithyrambos ist rein affirmativ
und identitätsbildend: Die Aktivierung der kollektiven Erinnerung im performativen
Akt hat die Wirkung, die Sokrates ironisch zu Beginn des Menexenos für die Epita-
phien beschreibt: Jeder Teilnehmer der Aufführung fühlt sich selbst erhabener,
bedeutender, und genauso kommt man sich auch den anwesenden Fremden gegen-
über vor.
In der Tragödie werden in einem Wechselspiel zwischen der mythischen Ebene
und den politischen Umständen des Aufführungsjahres Vergangenheit und Gegen-
wart in eine unmittelbare Beziehung gesetzt — unmittelbar durch die dramatische
Darstellung, durch die eine mythische Vergangenheit in der Gegenwart der Auf-
führung erlebbar wird. Der Zuschauer wird dazu angeregt, das dramatische Gesche-
hen auf der Bühne mit seinem Leben als Bürger in Verbindung zu setzen, da die Feste
mit den chorisch-dramatischen Aufführungen einen wesentlichen Bestandteil der
Lebenserfahrung eines attischen Bürgers des 5. Jahrhunderts ausmachten. Der Inhalt
einer Tragödie kann Modell- oder Foliencharakter für die Gegenwart erhalten.
Tragödienaufführungen sind durch eine ständige Spannung zwischen zwei Ebenen
gekennzeichnet, zwischen der Welt des Mythos und dem Aufführungsjahr mit
bestimmten Problemen der Gesellschaft. Der Bezug zwischen den beiden Ebenen
kann durch einzelne Elemente geleistet werden, besonders durch Aitiologien, durch
die ein aktuelles Ereignis oder irgendein Phänomen (besonders Riten) in der mythi-
schen Ebene verankert wird, aber auch durch einzelne Wörter, die dem aktuellen
Diskurs der Auffuhrungszeit entstammen und die mythische Vergangenheit in die
Gegenwart hineinholen („Brückenwörter“).
In der in der Forschung in der Regel mit dem Epitheton aktuell charakteri-
sierten Komödie - aktuell insofern, als die Dichter die Inspiration zu ihren Stücken
der Aufführungszeit entnehmen — kommt der komische Fleld durch die Kritik, die
er an Zuständen in der Polis übt, auf eine komisch-phantastische Idee, wie diesen
Missständen Abhilfe geschaffen werden könnte. In den Komödien des Aristophanes
wird der desolaten Gegenwart eine idealisierte Vergangenheit entgegengestellt, in
der Regel die Zeit der Perserkriege oder gar der Gründung der attischen Demo-
kratie durch Kleisthenes im Jahre 509 - also Ereignisse, die drei bis vier Generatio-
nen zurückliegen und schon zum kulturellen Gedächtnis der attischen Gesellschaft
gehören, also den Status von Gründungsmythen innehaben. Die Vergangenheit
reicht in der Komödie sinnfällig in die Gegenwart hinein - sinnfällig durch den
24 Sänger umfassenden Chor, der häufig als überaus vitales Relikt aus der guten
alten Zeit erscheint, oder durch dramatis personae wie den junggekochten Demos
am Schluss der Ritter oder durch den der Generation der Marathonkämpfer
angehörenden Aischylos in den Fröschen. Marathon wird damit wie in den Epita-
phien zu einem zentralen Erinnerungsort. Doch diese Vertreter der guten alten Zeit
werden in ihrer Vorbildlichkeit - bis weilen deutlich hörbar, bisweilen versteckt -
immer wieder in Frage gestellt, so dass wie bei der Tragödie der Zuschauer im
Theater irritiert wird.
 
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