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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2008 — 2009

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I. Das Geschäftsjahr 2008
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Antrittsreden
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Koch, Anton Friedrich: Antrittsrede vom 25. Oktober 2008
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https://doi.org/10.11588/diglit.67591#0127
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ANTRITTSREDEN

Gabe der reinen Theorie darzureichen. Nein, zu anwendungsorientierter Wissen-
schaft im Dienste der Menschheit war dieses Kind offenbar nicht bestimmt.
Nun wissen wir aber aus dem Vortrag von Herrn Langewiesche und Herrn
Birbaumer, dass viel Konstruktion in unsere Erinnerungen einfließt. So gewiss auch
hier.Vielleicht konstruiert da ein Tatenarmer seine Kindheit zu einer Ausrede für sein
Untätigsein. Doch diese Diagnose wäre selbst schon wieder Konstruktion und Inter-
pretation. Wir stehen hier an einem philosophisch signifikanten Punkt: Einsicht,
Erkenntnis, selbst Wahrnehmung wären gar nicht möglich ohne Konstruktion. Auch
schon das Kind, das sich mir nichts, dir nichts in der Welt vorfindet, konstruiert
unwissentlich, und selbst die Leibnizschen perceptions insensibles, von denen uns
Herr Dosch berichtete, wären nicht kognitiv, wären keine Perzeptionen ohne ein
Moment der freien Konstruktion.
Aber gerade aufgrund ihrer Omnipräsenz darf man die Konstruktion nicht
überschätzen, sonst gerät man in den fehlerhaften Zirkel des Konstrukteurs, der erst
sich selbst konstruieren muss und dann den Rest. Alle kognitive Konstruktion und
Selbstkonstruktion ist notwendigerweise Stückwerk; es bleibt ein hartes Element des
Realen übrig; aber zum Phänomen wird es nur durch stillschweigende Interpreta-
tion. Ontologie, so kann man mit Heidegger sagen, ist Phänomenologie, und
Phänomenologie ist Hermeneutik. Das Reale ist von Hause aus so, dass es sich nicht
restlos zeigen kann und sich auch partiell nur dann zeigt, wenn wir es tätig der
Verborgenheit entreißen und in seine Unverborgenheit eingehen lassen.
Der träumerische Knabe hat sich traumwandlerisch für die Philosophie ent-
schieden. 1971 brach ich zum Studium nach Heidelberg auf. Hier rezipierte man
früher als anderswo in Deutschland die analytische Philosophie, und so wurden
neben Kant die großen Angelsachsen der siebziger Jahre, Sellars und Quine,
Strawson und Davidson, meine Helden. Um Hegel schlich ich herum wie die Katze
um den heißen Brei. Keine andere Philosophie schien mir so vielsprechend und fas-
zinierend wie sie die seine und keine so schlechthin unverständlich. Schließlich ließ
ich ganz die Finger davon, weil ich mich zu unvorbereitet wähnte, um schon als Stu-
dent in die Hegelschen Geheimnisse einzudringen. Später, in den achtziger Jahren,
nachdem mein Heidelberger Doktorvater Dieter Henrich mich als Assistent nach
München mitgenommen hatte und ich selber Seminare hielt, nahm ich mir ein Herz
und bot ein Proseminar zum Anfang der Hegelschen Logik an. Den Anfang, dachte
ich, muss man doch verstehen können, zumal Hegel seine Logik als eine schlechthin
voraussetzungslose Theorie anpreist. Und siehe, es gelang. Es gelang zumindest in
dem bescheidenen Maße, in dem sich Hegel bei diesem Anspruch packen ließ. Man
musste nur ohne Seitenblicke darauf reflektieren, was es allenfalls heißen könnte,
streng voraussetzungslos zu theoretisieren. So machte mich der heilsame Zwang des
Lehrdeputats, wenn auch spät, zu einem Autodidakten in Sachen Hegelscher Logik.
Aber Hegel denkt letztlich von der Philosophie weg, hin zur natürlichen und
sozialen Realität; sein Blick ruht bei aller Tiefe seiner Spekulation auf den Phä-
nomenen. Wenn wir im Zentrum der Philosophie stehen, beim Begriff der Wahrheit
oder des Seins, haben wir die Wahl zwischen zwei Blickrichtungen: entweder zurück
zu den Phänomenen, von denen wir herkommen und die wir nun besser und tiefer
 
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