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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2008 — 2009

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I. Das Geschäftsjahr 2008
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Antrittsreden
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Koch, Anton Friedrich: Antrittsrede vom 25. Oktober 2008
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https://doi.org/10.11588/diglit.67591#0128
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Anton Friedrich Koch

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verstehen wollen, oder weiter nach vorn ins begriffliche Dickicht, ins Halbdunkel
der Quelle des Seins und der Wahrheit. Ich kenne nur zwei Philosophen, die beharr-
lich in diese Nichtstandardrichtung geschaut und gefragt und gedacht haben, Fichte
und Heidegger. Ihnen, obwohl ich Art und Stil keines der beiden sonderlich mag,
möchte ich in der Sache nacheifern. Aber zu schnell erlahmen jedes Mal meine Kräf-
te, und dann wende ich mich um und wieder den Phänomenen zu, erfreut über die
Ordnung, in die sie sich vom reinen Sein her bringen lassen.
Nach der Habilitation 1989 in München und einigen Lehrstuhlvertretungen
erhielt ich 1993 meine erste Professur in Halle und 1996 meine zweite in Tübingen.
Jetzt habe ich einen Ruf nach Heidelberg. Vielleicht also geht demnächst mein
Nomadentum an meiner alten alma mater zu Ende, wo ich dann gern ein Buch über
die Grundlagen der griechischen Metaphysik und eines über die Hegelsche Logik
schreiben möchte.
Dass ich von Hegels Logik nicht würde lassen können, stand zu erwarten.
Früher daheim nach dem Abendessen pflegte der Vater aus der Bibel vorzulesen, und
ich wollte es ihm gleichtun, was aber nicht möglich war, da ich noch nicht lesen
konnte, sondern nur „plappern wie die Heiden“ (Mt 6,7). Also gaben mir die Eltern
den Duden, damit die Schrift durch mein Geplapper nicht entweiht würde, und
erduldeten ein abendliches Lesespiel, von dem mir eine Standardformel besonders in
Erinnerung geblieben ist, des absurden Wortlauts: „Ein Kenntnis rädelt sich von
sich“. Ziemlich peinlich. (Aber es kommt noch schlimmer.) „Ein Kenntnis“ — das ist
offenbar ein epistemischer Sachverhalt; und das Sich-von-sich-Rädeln ist, was immer
das Verb „rädeln“ hier bedeuten mag, jedenfalls ein negatives Selbstverhältnis von der
Art des Außersichkommens oder des Sich-von-sich-Abstoßens, wie es Hegel in sei-
ner Logik in vielen Formen durchdekliniert. Die Quintessenz des Spruches wäre
also bei wohlwollender Interpretation, dass das Wissen (und überhaupt das Bewusst-
sein) sich durch negative Selbstbeziehung konstituiert — eine gut Hegelsche These.
Und für meine neugeborene Schwester fand ich nach allerlei provisorischen Kose-
und Verkleinerungsformen eine passende Benennung schließlich in der Selbstan-
wendung der Verkleinerungssilbe ,,-chen“: Ich nannte sie schlicht „Chenchen“.
Auch dies, die Selbstanwendung eines Operators unter Verletzung des Fundierungs-
axioms, sozusagen im Leerlauf, ist eine beliebte Denkfigur der spekulativen Logik. -
Das eigentlich Peinliche ist nun dies: „Lieber Koch“, werden Sie sagen, „Sie beschäf-
tigen sich nach all den Jahren also immer noch mit dem Unsinn, den Sie schon als
vierjähriger Knabe verzapft haben“, und ich werde Ihnen ehrlicherweise antworten
müssen: „Ja, so ist es.“
Danke, dass Sie mich dennoch in Ihre Reihen aufgenommen haben.
 
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