Metadaten

Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2008 — 2009

DOI chapter:
III. Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses
DOI chapter:
B. Das WIN-Kolleg
DOI chapter:
2. Forschungsschwerpunkt "Kulturelle Grundlagen der Europäischen Einigung"
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.67591#0259
License: Free access  - all rights reserved

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
272 | FÖRDERUNG DES WISSENSCHAFTLICHEN NACHWUCHSES
Der Lissabon-Vertrag akzeptiert diese Rechtsprechung, in dem eine Klarstel-
lung nicht vorgenommen wird, obwohl die Konsequenzen der Rechtsprechung der
Mitgliedstaaten bekannt sind. Dies kann nur so gedeutet werden, dass die Mitglied-
staaten mit einer sozialstaatlichen Solidarität zu Gunsten aller Unionsbürger in allen
Mitgliedstaaten einverstanden sind. Insofern wird hier ein Stück weit der Verband des
Staatsvolkes zu Gunsten eines europäischen Volkes aufgehoben. Zwar ist die europäi-
sche Gemeinschaft noch nicht so weit, dass ein europäisches Staatsvolk geschaffen
wird, allerdings wird eine überstaatliche Solidargemeinschaft der Europäischen
Staatsvölker im Sinne einer sozialstaatlichen Verpflichtung aller Mitgliedstaaten
gegenüber allen Unionsbürgern geschaffen. Insoweit ist dies ein Zeichen dafür, dass
auch der Grundsatz der Völkersouveränität als Legitimationsgrundlage der Europäi-
schen Gemeinschaft möglicherweise nur ein Transit zu einer Legitimation durch ein
europäisches Gemeinschaftsvolk darstellt. Die Entwicklung des sozialen Europas lässt
sich jedenfalls in diese Richtung deuten.
Diese These lässt sich auch historisch belegen. Den sozialen und wohlfahrts-
staatlichen Errungenschaften der Europäischen Union kommt für die faktische Legi-
timation eine große Bedeutung zu. Zwar wird vielfach darauf verwiesen, dass sich
das Projekt wohlfahrtsstaatlicher Daseinsfürsorge und der Mobilisierung von Loya-
lität durch Sozialintegration nur im Rahmen des Nationalstaats und der zumindest
partiell geschlossenen Volkswirtschaft verwirklichen lasse. Diese nationalgesellschaft-
liche Sicht auf die Solidaritätsverpflichtung zwischen Staat und Staatsbürger ist aller-
dings durch die Praxis der europäischen Integration und die Rechtsprechung des
EuGH inzwischen überholt, und auch in der Vergangenheit lässt sie sich keineswegs
als das einzige auffindbare Modell bezeichnen. Es zeigt sich, dass Solidarität freiwil-
lig und verpflichtend organisiert sein kann, in Finanztransfers ebenso wie in der
Eröffnung von Gelegenheiten und im Tun ebenso wie im Unterlassen geübt werden
kann, zwischen Einzelnen, Gruppen, Staaten und internationalen Organisationen
bestehen kann. Organisierte Solidarität hat sich auch historisch längst nicht in Trans-
ferzahlungen eines Nationalstaats an seine Angehörigen erschöpft.
Nicht zuletzt steht die Absicherung binnenstaatlicher Solidarsysteme durch
übernationale Gemeinschaftsbildung auch am Anfang der europäischen Integration.
Das Europa der Kohle- und Stahlgemeinschaft und des Gemeinsamen Marktes
erlaubte es den westeuropäischen Staaten in den 1950er Jahren, außenwirtschaftliche
Öffnung mit dem Festhalten an wohlfahrtsstaatlichen Programmen durch deren
gegenseitigen Abstimmung in einem gemeinsamenWirtschaftsraum zu kombinieren.
Wie die Geschichte des Integrationsprozesses seitdem gezeigt hat, stellt die Koordi-
nation offener Wohlfahrtsstaaten im supranationalen Europa keineswegs eine gesi-
cherte Errungenschaft dar. Sie muss vielmehr immer wieder aufs Neue hergestellt
werden. Die Frage nach dem Ausgleich zwischen Marktintegration, sozialer Harmo-
nisierung und einzelstaatlichen Gestaltungsspielräumen stellte sich bei jeder ent-
scheidenden Etappe der Integration, bei jedem großen Projekt und jeder großen
Krise. Fragt man in der aktuellen Lage nach den Bedingungen und Grenzen über-
staatlicher Solidarität im Staatenverbund Europa, so ist damit also kein durch die
Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erweiterung der Europäischen Union über den
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften