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Sellner, Harald [VerfasserIn]; Eberhard Karls Universität Tübingen [Grad-verleihende Institution] [Hrsg.]
Klöster zwischen Krise und correctio: monastische "Reformen" im Hochmittelalterlichen Flandern — Klöster als Innovationslabore, Band 3: Tübingen, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.48960#0051
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2. Analyse des Forschungsstands | 47

phische Texte sind, wie Hans-Werner Goetz hervorhebt, stets eine Auswahl von
Themen und res gestae, die dem jeweiligen Entstehungskontext und den Bedürfnis-
sen der Gemeinschaft Rechnung trugen. In ihnen hielten die Mönche fest, was sie
für besonders erinnerungswürdig hielten.151 Inzwischen wurde aber auch gezeigt,
dass dieses »Prinzip« in ganz ähnlicher Weise beim Umgang mit Chartularen, Tra-
ditionsbüchern oder mit den überlieferten Archiven der Klöster zu beachten ist.152
In der Forschung wurde klösterliche Textproduktion daher lange Zeit unter dem
Blickwinkel der »pragmatischen Schriftlichkeit« betrachtet:153 Texte aus Klöstern
waren demnach stets zielgerichtet und konnten beispielsweise zur Rechtssicherung
oder zur Verteidigung klösterlichen Besitzes gegenüber Laien oder anderen Klös-
tern dienen.154 Das Erinnern an Vergangenes konnte aber auch legitimieren oder
zur Besserung motivieren. So unterscheidet Jan Assmann beim Erinnern an Ver-
gangenes zwischen kalter und heißer Erinnerung: Während bei der kalten Erinne-
rung Gegenwärtiges »in das Licht einer Geschichte gestellt [wird], die es sinnvoll,
gottgewollt, notwendig und unabänderlich erscheinen läßt«, »hebt [die heiße Erin-
nerung] das Fehlende, Verschwundene, Verlorene, an den Rand Gedrängte hervor
und macht den Bruch bewusst zwischen dem >einst< und >jetzt<.«155
Goetz erkannte, dass Klosterchroniken kaum »der Propaganda des eigenen
Klosters nach außen hin dienten; eher sollten sie den Mitbrüdern das Wechsel-
volle der eigenen Geschichte vor Augen führen und zu entsprechendem Handeln
anleiten.«156 Damit lässt sich diesen Texten eine stark identitätsstiftende Funktion
zusprechen.157 Die Frage nach dem »wer sind wir?« beantworteten die Gemein-
schaften vor allem in ihren Fundationserinnerungen, denen sich die Forschung der
letzten Jahre besonders intensiv gewidmet hat.158
151 H. W. Goetz, Geschichtsbewusstsein, S. 461.
152 H. W. Goetz, Geschichtsschreibung; zu den Chartularen vgl. den Sammelband O. Guyotjeannin, L. Mo-
relle, M. Parisse (Hgg.), Les cartulaires. Actes de la table ronde; P. Chastang, Lire, ecrire, transcrire.
Zu den Urkunden und Archiven: O. Guyotjeannin, L. Morelle, Tradition et reception; S. Barret, La
memoire de l’ecrit; L. Morelle, The Metamorphosis; speziell zu Flandern: G. Declercq, Le classement
des chartriers; S. Vanderputten, Reforme, gestion de l’ecrit; Ders., Monastic Literate Practices.
153 H. Keller, Pragmatische Schriftlichkeit; Ders., Zur Einführung; G. Melville, Zur Funktion der Schrift-
lichkeit.
154 So bereits H. Patze, Klostergründung und Klosterchronik; L. Holzfurtner, Gründung und Gründungs-
überlieferung; J. Kastner, Historiae fundationum sieht in den Fundationsberichten »Hilfsmittel zur
Verwaltung und juristischen Verteidigung des Besitzes«, (ebd., S. 87) erkennt aber zugleich die religiöse
Dimension dieser Texte für die Gemeinschaften; für Nordfrankreich H. Platelle, Crime et chätiment.
155 J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 79.
156 H. W. Goetz, Geschichtsbewusstsein, S. 479.
157 A. Remensnyder, Remembering; Ch. Sauer, Fundatio und Memoria; S. Albrecht, Die Inszenierung.
158 C. Caby (Hg.), La memoire des origines, J. M. Sansterre (Hg.), L’autorite du passe; N. Bouter (Hg.),
Ecrire son histoire; D. logna-Prat, La geste des origines; Ch. Zwanzig, Gründungsmythen. Auch im
Umkreis Melvilles wurden die Anfänge religiöser Gemeinschaften im Hinblick auf die Institutionali-
 
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