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Sellner, Harald [VerfasserIn]; Eberhard Karls Universität Tübingen [Grad-verleihende Institution] [Editor]
Klöster zwischen Krise und correctio: monastische "Reformen" im Hochmittelalterlichen Flandern — Klöster als Innovationslabore, Band 3: Tübingen, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.48960#0250
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246 | II. Die Abtei von Marchiennes

führen.1030 In Lobbes geschah dies wohl noch vor 1131 und somit bevor die Äbte die
besagten Abänderungen des Ordos beschlossen. In Marchiennes ist ein vergleichba-
res Szenario durchaus denkbar, deutet doch das äußere Erscheinungsbild der Hand-
schrift darauf hin, dass die Gewohnheiten Bernhards von Cluny zuerst Eingang in
die Gemeinschaft fanden und wenig später um die Beschlüsse des Generalkapitels
ergänzt wurden. Bedenkt man, dass die klösterliche Lebensweise in Marchiennes
wohl durchaus auf die althergebrachte Weise des docere verbo et exemplo vermittelt
worden war, stellt sich freilich die Frage, weshalb nun auf die verschriftlichte Form
eines Ordos zurückgegriffen wurde. Ein Grund hierfür dürfte eben gerade in den
Beschlüssen von 1131 und dem längerfristigen Projekt der abbates comprovinicales
gesehen werden, die Regelobservanz in der Kirchenprovinz zu verstetigen. Dies
konnte nämlich nur unter gleichen Bedingungen in Form eines einheitlichen und
verschriftlichten Ordos gelingen.
Ob die verschriftlichte Form des Ordos in Marchiennes aber zur Umsetzung
gekommen ist, darf, wie bereits gezeigt wurde, bezweifelt werden. Hierfür sprechen
auch die historiographischen Texte, die davon zeugen, dass die Abtei von Mar-
chiennes zunehmend zu einer gewissen Selbstständigkeit gelangt war und sich vor
allem gegenüber ihrer mächtigen Nachbarin Anchin emanzipierte.
Andreas von Marchiennes berichtet in seinen Miracula Sanctae Rictrudis, dass
Abt Lietbert, der Nachfolger Amands von Castello, sein Amt freiwillig niedergelegt
habe. Er habe sich nämlich vor den strengen examina futuri gefürchtet.1031 Vander-
putten sieht hierin Visitationen, die vor allem von Alvisus, der inzwischen Bischof
von Arras war, initiiert worden seien. Dadurch habe er versucht, die Regelobser-
vanz in den Klöstern seiner Diözese zu bewahren und das gescheiterte Projekt des
Generalkapitels auf diözesaner Ebene fortzusetzen.1032 Besonders interessant an
dieser Passage ist der Hinweis, dass Lietbert Angst davor gehabt habe, Rechenschaft
über seine Amtsführung abzulegen. Wenngleich aus dieser Passage nicht ganz klar
wird, worauf sich diese examina futuri beziehen, wird doch allein an der Reaktion
des Abtes deutlich, dass es in Marchiennes durchaus Anlass zu Beanstandungen ge-
geben haben muss. Beziehen sich die examina auf die Observanz der Gemeinschaft,
heißt dies, dass man in Marchiennes nicht nach den vorgegebenen Bestimmungen
gelebt hatte.1033 Der wenige Zeit später ausbrechende Konflikt mit Bischof Alvisus
1030 Zum Fall der correctio von Lobbes siehe unten S. 504-508.
1031 Andreas, Miracula Sanctae Rictrudis, II, c. 4 S. 110A: »[...] laborem coepit abhorrere, & stricti examinis
futuri timere discussionem.«
1032 S. Vanderputten, A Time of Great Confusion, S. 73.
1033 Aus dem Rücktritt Lietberts erwuchs ein größerer Streit um das Recht der freien AbtswahL Offenbar
wollte Bischof Alvisus die Leitung der Gemeinschaft von Marchiennes einem eigenen Kandidaten
übertragen, was den heftigen Widerstand der Brüder hervorrief. Erst nach einer Appellation nach Rom
 
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