3. Veränderungen im Innern | 247
um die Besetzung des Abtstuhls von Marchiennes veranschaulicht zudem, dass sich
diese Gemeinschaft nicht nur von ihrem Bischof, sondern auch vom benachbarten
Anchin zunehmend emanzipieren und seine eigene Identität bewahren wollte.
Die klösterliche Lebensweise in Marchiennes ging in ihrem Kern somit auf jenen
Ordo zurück, der von Mönchen aus Anchin vermittelt wurde. Dieser Ordo wurde
aber keinesfalls treu nach dem Vorbild von Anchin befolgt, sondern mit weit grö-
ßeren Spielräumen umgesetzt. Diese Offenheit beim Umgang mit dem erhaltenen
Ordo lief aber den Bestrebungen des Alvisus und der abbates comprovinciales zu-
wider und war mit großer Sicherheit auch ein Grund dafür, dass ihr Vorhaben einer
Vereinheitlichung und Kontrolle des Mönchtums längerfristig scheiterte.
3.3. Die Konstruktion kollektiver Identität
Als Gründung des 7. Jahrhunderts konnte die Abtei von Marchiennes im Gegensatz
zu ihrer weit jüngeren Nachbarin Anchin auf eine lange Tradition zurückblicken.
Durch die Krise zu Beginn des 12. Jahrhunderts drohte nun aber all dies vollkom-
men verloren zu gehen. Für Abt Amand bedeutete der Neuanfang in Marchiennes
daher unter anderem, dass er dafür sorgen musste, der Gemeinschaft wieder eine ei-
gene Identität zu geben: Während im Innern das Gemeinschaftsgefühl gestärkt wer-
den sollte, ging es im Äußeren darum, die Gemeinschaft wieder in ihrem politischen
und sozialen Umfeld zu etablieren, ein Unterfangen, wovon insbesondere die große
Zahl von Texten zeugt, die während des Abbatiats Amands verfasst wurden.1034
3.3.1. Die Histoire-Polyptyque
Als eine der ersten Schriften aus dem Abbatiat Amands von Castello darf die soge-
nannte Histoire-Polyptyque gelten.1035 Wie bereits die Bezeichnung erahnen lässt,
besteht dieses Werk aus zwei Teilen: einer Art Fundationsbericht des Klosters von
wurde der Konflikt vom Papst zugunsten der Brüder von Marchiennes beigelegt. Hierzu der ausführ-
liche Bericht bei Andreas, Miracula Sanctae Rictrudis, II, c. 4, S. 110A-111D. VgL ebenfalls S. Van-
derputten, A Time of Great Confusion, S. 70-72. In den schweren Konflikt zwischen Marchiennes
und Alvisus griff auch Bernhard von Clairvaux ein. Hiervon zeugt einer seiner Briefe, in dem er sich
für seinen Freund Alvisus einsetzt. Bernhard von Clairvaux, Opera, Bd. 8, ep. 339, S. 279-280; zum
freundschaftlichen Verhältnis zwischen Bernhard und Alvisus siehe unten S. 465-469.
1034 Ch. Zwanzig, Gründungsmythen zeigt, dass das Umfeld des Klosters ebenfalls starken Anteil an der
klösterlichen Identität hatte.
1035 Die Bezeichnung dieses Werks als Histoire-Polyptyque geht auf B. Delmaire (S. 31) zurück und soll
auch hier beibehalten werden. Die Histoire-Polyptyque ist zusammen mit zahlreichen weiteren Wer-
um die Besetzung des Abtstuhls von Marchiennes veranschaulicht zudem, dass sich
diese Gemeinschaft nicht nur von ihrem Bischof, sondern auch vom benachbarten
Anchin zunehmend emanzipieren und seine eigene Identität bewahren wollte.
Die klösterliche Lebensweise in Marchiennes ging in ihrem Kern somit auf jenen
Ordo zurück, der von Mönchen aus Anchin vermittelt wurde. Dieser Ordo wurde
aber keinesfalls treu nach dem Vorbild von Anchin befolgt, sondern mit weit grö-
ßeren Spielräumen umgesetzt. Diese Offenheit beim Umgang mit dem erhaltenen
Ordo lief aber den Bestrebungen des Alvisus und der abbates comprovinciales zu-
wider und war mit großer Sicherheit auch ein Grund dafür, dass ihr Vorhaben einer
Vereinheitlichung und Kontrolle des Mönchtums längerfristig scheiterte.
3.3. Die Konstruktion kollektiver Identität
Als Gründung des 7. Jahrhunderts konnte die Abtei von Marchiennes im Gegensatz
zu ihrer weit jüngeren Nachbarin Anchin auf eine lange Tradition zurückblicken.
Durch die Krise zu Beginn des 12. Jahrhunderts drohte nun aber all dies vollkom-
men verloren zu gehen. Für Abt Amand bedeutete der Neuanfang in Marchiennes
daher unter anderem, dass er dafür sorgen musste, der Gemeinschaft wieder eine ei-
gene Identität zu geben: Während im Innern das Gemeinschaftsgefühl gestärkt wer-
den sollte, ging es im Äußeren darum, die Gemeinschaft wieder in ihrem politischen
und sozialen Umfeld zu etablieren, ein Unterfangen, wovon insbesondere die große
Zahl von Texten zeugt, die während des Abbatiats Amands verfasst wurden.1034
3.3.1. Die Histoire-Polyptyque
Als eine der ersten Schriften aus dem Abbatiat Amands von Castello darf die soge-
nannte Histoire-Polyptyque gelten.1035 Wie bereits die Bezeichnung erahnen lässt,
besteht dieses Werk aus zwei Teilen: einer Art Fundationsbericht des Klosters von
wurde der Konflikt vom Papst zugunsten der Brüder von Marchiennes beigelegt. Hierzu der ausführ-
liche Bericht bei Andreas, Miracula Sanctae Rictrudis, II, c. 4, S. 110A-111D. VgL ebenfalls S. Van-
derputten, A Time of Great Confusion, S. 70-72. In den schweren Konflikt zwischen Marchiennes
und Alvisus griff auch Bernhard von Clairvaux ein. Hiervon zeugt einer seiner Briefe, in dem er sich
für seinen Freund Alvisus einsetzt. Bernhard von Clairvaux, Opera, Bd. 8, ep. 339, S. 279-280; zum
freundschaftlichen Verhältnis zwischen Bernhard und Alvisus siehe unten S. 465-469.
1034 Ch. Zwanzig, Gründungsmythen zeigt, dass das Umfeld des Klosters ebenfalls starken Anteil an der
klösterlichen Identität hatte.
1035 Die Bezeichnung dieses Werks als Histoire-Polyptyque geht auf B. Delmaire (S. 31) zurück und soll
auch hier beibehalten werden. Die Histoire-Polyptyque ist zusammen mit zahlreichen weiteren Wer-