5. Die zeitgenössischen Texte als Überreste der correctio | 319
zu Tage, das in Anbetracht der correctio des Klosters von besonderem Interesse ist:
So lässt es den Schluss zu, dass die Mönche aus dem benachbarten Anchin, die in
Marchiennes lebten und damit beauftragt waren, wieder ein klösterliches Leben zu
etablieren, willkommene Gäste des Klosters waren, denen wegen ihres Einsatzes für
die benachbarte Gemeinschaft Achtung und Verehrung gebührte, aber eben keine
»Diener« der heiligen Rictrud. Im letzten Schluss bedeutet dies, dass man ihnen
innerhalb der Gemeinschaft nur begrenzte Kompetenzen zusprach und damit wohl
einer zu großen Einflussnahme Anchins entgegenwirken wollte. Wie der Fall Rai-
ners zeigte, konnte allerdings auch ein Gast des Klosters auf die Hilfe der Heiligen
vertrauen, wenn er sich in ihren Dienst stellte. Mit diesem Beispiel könnte Galbert
auch die Mönche aus Anchin ansprechen und ermutigen. Beide Interpretationen
zeigen deutlich, wie vielschichtig und durchdacht Galberts Text ist, aber auch, wie
er die Interessen der verschiedenen Gruppen im Kloster bediente.
5.2.3. Die Strafwunder der heiligen Rictrud
Neben Wundergeschichten, die dem Leser ein gottgefälliges Leben vor Augen füh-
ren sollten, liefert Galbert in seinen Miracula Sanctae Rictrudis eine auffallend gro-
ße Zahl von Strafwundern, die all jenen widerfuhren, die sich schlecht gegenüber
dem Kloster, seinen Mönchen und Hörigen verhielten. Die meisten dieser Mirakel-
berichte lassen sich unmittelbar in den Abbatiat Amands datieren und können bis
auf einige Ausnahmen genau lokalisiert werden.1287 Zwei Fälle scheinen für Galbert
und das Kloster von besonderem Interesse gewesen zu sein, da sie in ausführlicher
Weise zunächst Eingang in das Patrocinium und dann in kürzerer Version auch in
die Miracula fanden.1288 Neben dem Schicksal von vier Vögten des Klosters, liefern
die Miracula elf Fälle, in denen andere Amtsträger, meist Maier des Klosters, die
»Rache« der Heiligen zu spüren bekamen, und schließlich den Fall eines Vogtes,
der zeitlich etwas früher zu datieren ist. Diese Wunder dienten, wie bereits die
Mirakel des ersten Buchs, zur Schaffung und Stärkung der kollektiven Identität
des Klosters. In ihrem Mittelpunkt stand allerdings nun vor allem das Verhältnis
der Mönche zu ihrem sozialen Umfeld. Im Folgenden soll auf zwei dieser Beispiele
eingegangen werden.
1287 VgL dazu H. Platelle, Crime et chätiment, S. 162-164.
1288 Es handelt sich um den Fall des Ingebrand Paganus und Stephans, des Maiers von Sailly-en-Ostrevant;
Galbert, Patrocinium, c. 5, S. 152D-153F; Galbert, Miracula, II, c. 1, S. 135F-136B. Der Fall Inge-
brands findet sich in etwas ausführlicher Form auch bei Andreas, Miracula Sanctae Rictrudis, II, c. 2,
S. 103C-104C und in seiner zweiten Version der Miracula Sanctae Eusebiae, BM Douai, ms. 846, fol.
165r-171v. Vgl. auch H. Platelle, Crime et chätiment, S. 182-183.
zu Tage, das in Anbetracht der correctio des Klosters von besonderem Interesse ist:
So lässt es den Schluss zu, dass die Mönche aus dem benachbarten Anchin, die in
Marchiennes lebten und damit beauftragt waren, wieder ein klösterliches Leben zu
etablieren, willkommene Gäste des Klosters waren, denen wegen ihres Einsatzes für
die benachbarte Gemeinschaft Achtung und Verehrung gebührte, aber eben keine
»Diener« der heiligen Rictrud. Im letzten Schluss bedeutet dies, dass man ihnen
innerhalb der Gemeinschaft nur begrenzte Kompetenzen zusprach und damit wohl
einer zu großen Einflussnahme Anchins entgegenwirken wollte. Wie der Fall Rai-
ners zeigte, konnte allerdings auch ein Gast des Klosters auf die Hilfe der Heiligen
vertrauen, wenn er sich in ihren Dienst stellte. Mit diesem Beispiel könnte Galbert
auch die Mönche aus Anchin ansprechen und ermutigen. Beide Interpretationen
zeigen deutlich, wie vielschichtig und durchdacht Galberts Text ist, aber auch, wie
er die Interessen der verschiedenen Gruppen im Kloster bediente.
5.2.3. Die Strafwunder der heiligen Rictrud
Neben Wundergeschichten, die dem Leser ein gottgefälliges Leben vor Augen füh-
ren sollten, liefert Galbert in seinen Miracula Sanctae Rictrudis eine auffallend gro-
ße Zahl von Strafwundern, die all jenen widerfuhren, die sich schlecht gegenüber
dem Kloster, seinen Mönchen und Hörigen verhielten. Die meisten dieser Mirakel-
berichte lassen sich unmittelbar in den Abbatiat Amands datieren und können bis
auf einige Ausnahmen genau lokalisiert werden.1287 Zwei Fälle scheinen für Galbert
und das Kloster von besonderem Interesse gewesen zu sein, da sie in ausführlicher
Weise zunächst Eingang in das Patrocinium und dann in kürzerer Version auch in
die Miracula fanden.1288 Neben dem Schicksal von vier Vögten des Klosters, liefern
die Miracula elf Fälle, in denen andere Amtsträger, meist Maier des Klosters, die
»Rache« der Heiligen zu spüren bekamen, und schließlich den Fall eines Vogtes,
der zeitlich etwas früher zu datieren ist. Diese Wunder dienten, wie bereits die
Mirakel des ersten Buchs, zur Schaffung und Stärkung der kollektiven Identität
des Klosters. In ihrem Mittelpunkt stand allerdings nun vor allem das Verhältnis
der Mönche zu ihrem sozialen Umfeld. Im Folgenden soll auf zwei dieser Beispiele
eingegangen werden.
1287 VgL dazu H. Platelle, Crime et chätiment, S. 162-164.
1288 Es handelt sich um den Fall des Ingebrand Paganus und Stephans, des Maiers von Sailly-en-Ostrevant;
Galbert, Patrocinium, c. 5, S. 152D-153F; Galbert, Miracula, II, c. 1, S. 135F-136B. Der Fall Inge-
brands findet sich in etwas ausführlicher Form auch bei Andreas, Miracula Sanctae Rictrudis, II, c. 2,
S. 103C-104C und in seiner zweiten Version der Miracula Sanctae Eusebiae, BM Douai, ms. 846, fol.
165r-171v. Vgl. auch H. Platelle, Crime et chätiment, S. 182-183.