334 | III. Die Abtei Saint-Martin in Tournai
Bischofs, aber auch durch die sozio-politischen Rahmenbedingungen in der Stadt
begünstigt. So gehörten die meisten Kanoniker den großen Familien der Stadt an
und waren durchaus mit weltlichen Angelegenheiten befasst. Nichtsdestotrotz
oblag den Kanonikern von Sainte-Marie die Seelsorge für das linke Scheldeufer
und für die Gemeinden Chercq, Calonne, Orcq, Foyennes, Marquain und Saint-
Maur.1325 Darüber hinaus unterhielt das Kapitel eine bedeutende Schule, die ihren
Sitz im Kreuzgang der Kathedrale hatte. Ende des 11. Jahrhunderts lehrte dort der
weithin bekannte Scholaster Odo von Orleans, der sich alsbald bekehren und das
Martinskloster von Tournai wiederherstellen sollte.1326
Obgleich sich die Bekehrung Odos von Orleans für das Kathedralkapitel von
Tournai als besonders folgenreich erwies, war sie keinesfalls die erste dieser Art.
Der religiöse Aufbruch war in der Gegend von Tournai besonders stark zu spüren.
Sowohl Kleriker als auch Laien machten sich auf die Suche nach einem besseren
religiösen Leben. So bekehrte sich der Kleriker Otfried 1072 mit einigen seiner
Gefährten und begann in Watten ein Leben nach der vita apostolica zu führen.1327
Um 1090 fasste Aibert den Entschluss, Mönch in Crespin zu werden, verließ dieses
Kloster jedoch 1115 und wurde Inkluse.1328 1 091 zog sich ein gewisser Heldemar in
den Wald von Arrouaise zurück und führte dorte ebenfalls ein eremitisches Leben.
Auch die im Wald von Vicoigne gelegenen Einsiedeleien von Odomez und Pom-
meroeul waren Anlaufpunkte für Kanoniker und Kleriker, sowie für Laien, die ein
strenges religiöses Leben wünschten.1329 War die Bekehrung einiger Kanoniker aus
Tournai bis dahin eher der Einzelfall, sollte sich dies nun mit der Bekehrung Odos
ändern, da er sich 1092 zusammen mit seinen Gefährten bei der vor den Mauern
der Stadt gelegenen Martinskirche niederließ. Jacques Pycke konnte für die Zeit bis
1102 zeigen, dass letztlich ein Drittel der Domkanoniker ein Leben in Saint-Martin
wählte, wodurch die Abtei zum Anlaufpunkt für all jene Kanoniker wurde, die ein
strengeres Leben forderten.1330
1325 J. Pycke, Le chapitre cathedral, S. 29 sieht die Grenzen dieserparochia in der Karolingerzeit festgelegt;
Ders., Chanoines et pretres seculiers, S. 91-105.
1326 Dass die Kathedralschule nach Odos Weggang noch nicht im Niedergang begriffen war, zeigt J. Pycke,
Le declin de l’ecole capitulaire, S. 433-443.
1327 Ch. Dereine, Vie commune, S. 365-406; Ders., Les predicateurs »apostoliques«, S. 173-175.
1328 R. Aigrain, Artikel »Aibert (saint)«, Sp. 237; Ch. Dereine, Les predicateurs »apostoliques«, S. 182-185;
siehe zudem unten S. 461-464.
1329 Ch. Dereine, Ermites, reclus et recluses, S. 289-313.
1330 J. Pycke, Le chapitre cathedral, S. 111; dass viele Kanoniker Ende des 11. Jahrhunderts durchaus dazu
bereit waren, wieder ein strengeres und vor allem gemeinschaftliches Leben zu führen, veranschaulicht
nicht zuletzt die Wortwahl, die in den zeitgenössischen Urkunden des Bischofs und der Kanoniker
selbst zu finden ist. So ist in einer Urkunde Radbods II. von 1090 die Rede vom consortium canoni-
corum und von tarn fratrum quam decani concessione. Nach J. Pycke, Le chapitre cathedral, S. 114
tauchen der Begriff frater und alle anderen Verweise auf die Gemeinschaft in dieser Zeit zum ersten
Mal auf, was von einem neuen Geist zeugt.
Bischofs, aber auch durch die sozio-politischen Rahmenbedingungen in der Stadt
begünstigt. So gehörten die meisten Kanoniker den großen Familien der Stadt an
und waren durchaus mit weltlichen Angelegenheiten befasst. Nichtsdestotrotz
oblag den Kanonikern von Sainte-Marie die Seelsorge für das linke Scheldeufer
und für die Gemeinden Chercq, Calonne, Orcq, Foyennes, Marquain und Saint-
Maur.1325 Darüber hinaus unterhielt das Kapitel eine bedeutende Schule, die ihren
Sitz im Kreuzgang der Kathedrale hatte. Ende des 11. Jahrhunderts lehrte dort der
weithin bekannte Scholaster Odo von Orleans, der sich alsbald bekehren und das
Martinskloster von Tournai wiederherstellen sollte.1326
Obgleich sich die Bekehrung Odos von Orleans für das Kathedralkapitel von
Tournai als besonders folgenreich erwies, war sie keinesfalls die erste dieser Art.
Der religiöse Aufbruch war in der Gegend von Tournai besonders stark zu spüren.
Sowohl Kleriker als auch Laien machten sich auf die Suche nach einem besseren
religiösen Leben. So bekehrte sich der Kleriker Otfried 1072 mit einigen seiner
Gefährten und begann in Watten ein Leben nach der vita apostolica zu führen.1327
Um 1090 fasste Aibert den Entschluss, Mönch in Crespin zu werden, verließ dieses
Kloster jedoch 1115 und wurde Inkluse.1328 1 091 zog sich ein gewisser Heldemar in
den Wald von Arrouaise zurück und führte dorte ebenfalls ein eremitisches Leben.
Auch die im Wald von Vicoigne gelegenen Einsiedeleien von Odomez und Pom-
meroeul waren Anlaufpunkte für Kanoniker und Kleriker, sowie für Laien, die ein
strenges religiöses Leben wünschten.1329 War die Bekehrung einiger Kanoniker aus
Tournai bis dahin eher der Einzelfall, sollte sich dies nun mit der Bekehrung Odos
ändern, da er sich 1092 zusammen mit seinen Gefährten bei der vor den Mauern
der Stadt gelegenen Martinskirche niederließ. Jacques Pycke konnte für die Zeit bis
1102 zeigen, dass letztlich ein Drittel der Domkanoniker ein Leben in Saint-Martin
wählte, wodurch die Abtei zum Anlaufpunkt für all jene Kanoniker wurde, die ein
strengeres Leben forderten.1330
1325 J. Pycke, Le chapitre cathedral, S. 29 sieht die Grenzen dieserparochia in der Karolingerzeit festgelegt;
Ders., Chanoines et pretres seculiers, S. 91-105.
1326 Dass die Kathedralschule nach Odos Weggang noch nicht im Niedergang begriffen war, zeigt J. Pycke,
Le declin de l’ecole capitulaire, S. 433-443.
1327 Ch. Dereine, Vie commune, S. 365-406; Ders., Les predicateurs »apostoliques«, S. 173-175.
1328 R. Aigrain, Artikel »Aibert (saint)«, Sp. 237; Ch. Dereine, Les predicateurs »apostoliques«, S. 182-185;
siehe zudem unten S. 461-464.
1329 Ch. Dereine, Ermites, reclus et recluses, S. 289-313.
1330 J. Pycke, Le chapitre cathedral, S. 111; dass viele Kanoniker Ende des 11. Jahrhunderts durchaus dazu
bereit waren, wieder ein strengeres und vor allem gemeinschaftliches Leben zu führen, veranschaulicht
nicht zuletzt die Wortwahl, die in den zeitgenössischen Urkunden des Bischofs und der Kanoniker
selbst zu finden ist. So ist in einer Urkunde Radbods II. von 1090 die Rede vom consortium canoni-
corum und von tarn fratrum quam decani concessione. Nach J. Pycke, Le chapitre cathedral, S. 114
tauchen der Begriff frater und alle anderen Verweise auf die Gemeinschaft in dieser Zeit zum ersten
Mal auf, was von einem neuen Geist zeugt.