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Sellner, Harald [VerfasserIn]; Eberhard Karls Universität Tübingen [Grad-verleihende Institution] [Hrsg.]
Klöster zwischen Krise und correctio: monastische "Reformen" im Hochmittelalterlichen Flandern — Klöster als Innovationslabore, Band 3: Tübingen, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.48960#0459
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5. Die zeitgenössischen Texte als Überreste der correctio

5.1. Das Auctarium und die correctio von 1111
Unter Abt Alvisus erhielt Anchin sein erstes größeres historiographisches Werk.1814
Dabei handelt es sich streng genommen um eine wohl ab 1113 begonnene Abschrift
der Weltchronik des Sigebert von Gembloux, die ab dem Jahreseintrag von 1079 im
sogenannten Auctarium Aquicinense eigenständig fortgesetzt wurde.1815 In diesem
Teil des Werks wird die Geschichte Anchins von den Anfängen an nachgezeichnet
und mehrfach fortgesetzt.
Weshalb gerade unter Abt Alvisus damit begonnen wurde, ein großes historio-
graphisches Werk anzufertigen, hat mehrere Gründe. Zunächst ist ein sehr prag-
matisches Motiv zu nennen. Gut dreißig Jahre nach der offiziellen Gründung der
Gemeinschaft dürften nur noch wenige Mönche gelebt haben, die über die Anfänge
Anchins berichten konnten.1816 Da sich das Auctarium in seiner Erzählung nicht
nur auf die bereits aus den narrationes der beiden Gründungsurkunden und den
Annalen bekannten Informationen beschränkt, sondern weitere Details der Früh-
zeit des Klosters liefert, ist darin tatsächlich ein Indiz dafür zu sehen, dass der Ver-
fasser auf Berichte von Zeitgenossen zurückgegriffen hatte.1817 Das Bewahren ihrer
Erinnerungen darf mit Sicherheit nur als ein sehr beiläufiger Aspekt dieses Werks
gesehen werden. Entscheidender für das Verständnis dieses Texts ist vielmehr die
Tatsache, dass mit seiner Abfassung zu Beginn der Amtszeit des Alvisus begonnen
und das Werk kontinuierlich weitergeführt wurde. Vor dem Hintergrund der Krise,
die die Gemeinschaft von Anchin in den Jahren zwischen 1110 und 1111 durchlebte,
wird klar, welch große Aufgabe der neue Abt zu bewältigen hatte. Die Abfassung
historiographischer Texte diente andernorts nicht selten dazu, die Position des neu-
en Abtes zu festigen und auf die Gemeinschaft identitätsstiftend einzuwirken.1818
1814 Unter Abt Gelduin wurde das Kapitelbuch des Klosters angefertigt (Douai, BM, ms. 888) Es beinhaltet
neben der Regula Benedicti, das Martyrologium, die Evangelien, einige Texte Gregors des Großen,
das Nekrolog und die Annalen des Klosters. Die beiden letzten Teile wurden von da an kontinuierlich
weitergeführt. Vgl. dazu J. P. Gerzaguet, L’abbaye d’Anchin, S. 27-30.
1815 Zur Datierung vgl. J. P. Gerzaguet, L’abbaye d’Anchin, S. 31.
1816 So J. P. Gerzaguet, L’abbaye d’Anchin, S. 31.
1817 Vgl. dazu Hermann von Tournai, der vorgibt als einer der letzten Augenzeugen der Anfänge seines
Klosters nun fünfzig Jahre später gegen das Vergessen schreiben zu müssen; siehe dazu oben S. 336-
344.
1818 H. W. Goetz, Geschichtsbewusstsein, S. 479; A. Remensnyder, Remembering; Ch. Sauer, Fundatio und
Memoria; S. Albrecht, Die Inszenierung.
 
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