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Sellner, Harald [VerfasserIn]; Eberhard Karls Universität Tübingen [Grad-verleihende Institution] [Hrsg.]
Klöster zwischen Krise und correctio: monastische "Reformen" im Hochmittelalterlichen Flandern — Klöster als Innovationslabore, Band 3: Tübingen, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48960#0518
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8. Die correctio von Anchin: Folgerungen
Weder in der Forschung noch in der klostereigenen Historiographie wurde die Ab-
tei von Anchin zu Beginn des 12. Jahrhunderts mit einer correctio in Verbindung
gebracht. Dennoch deutet gerade die schwere Krise der Gemeinschaft in den Jahren
1110/1111 und ihre Überwindung unter Abt Alvisus daraufhin, dass die Abtei eine
correctio erfahren hatte: Unter seiner Leitung kam die Gemeinschaft in Kontakt
mit dem ordo cluniacensis, was auf Veränderungen in der Lebensweise und der
Spiritualität schließen lässt. Alvisus führte zudem eine aktive Restitutionspolitik
und trug dazu bei, dass sich das Verhältnis seiner Abtei zu den Bischöfen von Arras
verbesserte. Schließlich förderte dieser Abt die klostereigene Textproduktion: Mit
dem Auctarium Aquicinense erhielt die Gemeinschaft ihr erstes größeres historio-
graphisches Werk, das die Geschichte des Klosters in die Weltgeschichte einbettete.
Die Tatsache, dass weder die zeitnahe noch die spätere Geschichtsschreibung des
Klosters an diese Veränderungen erinnert, lässt mehrere Schlüsse zu: Zunächst ist
es denkbar, dass die Veränderungen von den Zeitgenossen nicht als correctio emp-
funden wurden und deshalb auch nicht Eingang in die Geschichtswerke der Abtei
fanden. Bedenkt man allerdings, dass die Vita Gosuini prima aus der zweiten Hälfte
des 12. Jahrhunderts ganz ähnliche Veränderungen beschreibt und sie eindeutig als
correctio ausweist, verliert diese These an Schlagkraft. An die Ereignisse zu Beginn
der Amtszeit des Alvisus wurde daher ganz bewusst nicht als correctio erinnert. Für
das Auctarium, das die correctio direkt unterstützen sollte, ist dies nicht verwun-
derlich, entstand es doch sehr zeitnah zu den Ereignissen. Die historiographischen
Texte der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts legen ihren Fokus aber in erster Linie
auf die eremitischen Anfänge der Gemeinschaft und nicht auf eine etwaige correc-
tio. In der noch jungen Gründung Anchin entwickelte sich somit eine ganz andere
Tradition als beispielsweise in Abteien wie Saint-Bertin, wo die verschiedenen cor-
re ctiones vergangener Tage zum festen Bestandteil des Geschichtsbilds der Mönche
gehörte: In Anchin beriefen sich die Mönche lieber auf die eremitischen Anfänge
ihres Klosters als darauf, dass diese fromme Gemeinschaft in eine schwere Krise
geraten war, der nur durch eine correctio entgegnet werden konnte. Ein weiterer
Grund für das Verschweigen der correctio ist sicherlich die Rolle, die Anchin ab
den 1130er Jahren in der Klosterlandschaft eingenommen hatte: Als Kloster, das an
der correctio zahlreicher anderer Gemeinschaften beteiligt war und einen weithin
bekannten Ruf hatte, war es nicht notwendig, aber sicherlich von Abt und Mönchen
auch nicht erwünscht, die eigene correctio zu thematisieren. Weit wichtiger war es,
auf die asketisch-eremitische Tradition dieses Ortes hinzuweisen.
 
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