Metadaten

Sellner, Harald [VerfasserIn]; Eberhard Karls Universität Tübingen [Grad-verleihende Institution] [Editor]
Klöster zwischen Krise und correctio: monastische "Reformen" im Hochmittelalterlichen Flandern — Klöster als Innovationslabore, Band 3: Tübingen, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48960#0519
License: Free access  - all rights reserved

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
8. Die correctio von Anchin: Folgerungen 515

Im Zuge der correctio unter Abt Alvisus erhielt die Gemeinschaft mit der Weltchro-
nik und dem darin eingefügten Auctarium ein erstes großes historiographisches
Werk. Es steht sowohl zeitlich als auch inhaltlich in direktem Zusammenhang mit
der correctio der Gemeinschaft und sollte eben diese maßgeblich unterstützen. Ein
propositum ist aus dem Text selbst allerdings nur indirekt durch die Auswahl von
bestimmten Themen und res gestae fassbar, welche vor allem die asketisch-eremiti-
sche Tradition der Gemeinschaft hervorhebt. Das besondere Interesse, das der Text
der Person Odos von Tournai entgegenbringt, steht ebenfalls in Zusammenhang
mit der correctio der Gemeinschaft. Der große Gelehrte und Asket aus Tournai,
der 1113 und somit wenige Jahre nach dem Amtsantritt des Alvisus in Anchin starb,
sollte die Rolle einer Integrationsfigur übernehmen: Mit seinem heiligen Leben,
das jedem im Kloster wohl bekannt war, konnte sich jeder Bruder identifizieren.
Da Odo gegen den Wunsch und die Ansprüche der Mönche aus Tournai in Anchin
begraben lag und seiner Person im Auctarium so große Wertschätzung entgegenge-
bracht wurde, ist davon auszugehen, dass Abt Alvisus den Versuch unternommen
hatte, einen Kult um diesen großen Asketen zu etablieren. Dadurch konnte nicht
zuletzt die correctio der Gemeinschaft maßgeblich unterstützt werden: zum einen
weil dieser Kult zur Erbauung der Mönche diente, zum anderen weil dieser Kult
die Heiligkeit des Ortes Anchin noch unterstrich und damit auf die Unterstützung
des sozialen Umfeldes des Klosters hoffen ließ.
Das Auctarium ist somit eine Quelle, die trotz ihrer Kürze im Kontext einer
correctio ein äußerst wichtiges Medium darstellte: Es zielt vor allem darauf ab, dem
monastischen Leser die Heiligkeit jenes Ortes vor Augen zu führen, den er gewählt
hatte, um ein Leben für Gott zu führen. Die Geschichte des Klosters wird zum Teil
der Heilsgeschichte und sollte die Mönche in ihrem propositum bestärken und sie
zur Besserung ermutigen.
Die zweite Redaktionsphase des Auctarium datiert in die Zeit der 1130er Jahre
und steht thematisch im Zusammenhang mit dem zelus religionis der abbates com-
provinciales. Vor allem das Interesse für den Inklusen Aibert von Crespin ist hier zu
nennen, steht sein streng asketisches, aber auch durchaus umstrittenes Leben doch
sinnbildlich für das propositum dieser Äbte und der Abtei von Anchin, die, wie in
der Forschung vermutet wird, in dieser Zeit eine immer bedeutendere Rolle in der
Klosterlandschaft Flanderns und Nordfrankreichs einnahm.
Um der Frage nach einer »Reformbewegung von Anchin« nachgehen zu kön-
nen, muss die Quellenüberlieferung der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in
Augenschein genommen werden. Diese Zeit ist zudem bedeutend, da die Quellen
Einblicke in die spirituelle Prägung dieser Abtei erlauben. Die Bibliotheksbestände
und das Werk De novitiis instruendis zeugen von einem äußerst breiten Interesse
der Mönche und lassen auf eine große spirituelle Offenheit dieser Gemeinschaft
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften