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Sellner, Harald [VerfasserIn]; Eberhard Karls Universität Tübingen [Grad-verleihende Institution] [Hrsg.]
Klöster zwischen Krise und correctio: monastische "Reformen" im Hochmittelalterlichen Flandern — Klöster als Innovationslabore, Band 3: Tübingen, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.48960#0545
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4. Correctio und Identität | 541

gen - und vor allem dazu, dass die Gemeinschaft nach ihrer kollektiven Identität,
nach dem »wer sind wir?« fragte. Fälle wie jener der Abtei von Lobbes zeigen, dass
in derartigen Situationen die klösterliche Lebensweise zu einem wichtigen Symbol
kollektiver Identität wurde, da eben diese von den von außen kommenden Mön-
chen im Zuge der correctio in Frage gestellt wurde und zum Teil tiefgreifende Ver-
änderungen erfuhr.2118 In Saint-Bertin war es weniger die Lebensweise als vielmehr
die freie und unabhängige Wahl des Abtes, die zum Symbol der kollektiven Identi-
tät wurde und die Gemeinschaft gegenüber Cluny abgrenzte.
Die Fälle von Lobbes und Saint-Bertin stellen allerdings eher Ausnahmen dar,
da die entsprechenden Texte in zeitlicher Distanz zum Berichteten und aus der
Position der betroffenen, aber letztlich obsiegenden Gruppe entstanden. In den
meisten Fällen unternahmen dagegen die an der correctio des Klosters beteiligten
Gruppen möglichst zeitnah Anstrengungen, um eine kollektive Identität zu kon-
struieren. Die »Deutungshoheit« lag somit maßgeblich beim Abt der Gemeinschaft,
den Befürwortern der correctio und den von außen in die Gemeinschaft gekom-
menen Mönchen, da sie über die Aktualisierung der gemeinschaftlichen Identität
entschieden.2119 Vor dem Hintergrund, dass die correctio eines Klosters durch die
vorgenommenen oder anvisierten Veränderungen die spirituelle Ausrichtung und
anderweitige Belange bestimmter Gruppen innerhalb (aber sicher auch außerhalb)
des Klosters störte, wird deutlich, dass die Konstruktion einer kollektiven Identität
in hohem Maße integrierend wirken musste. Die Beispiele haben gezeigt, dass die
Gegner der correctio nicht selten die Gemeinschaft verließen, später wie im Falle
Marchiennes aber auch wieder zurückkehrten. Die Gruppe jener, die maßgeblich
an der Konstruktion der gemeinschaftlichen Identität beteiligt war, hatte somit die
wichtige Aufgabe, alle innerklösterlichen Gruppen und jeden Einzelnen in die Ge-
meinschaft zu integrieren.
Am besten lässt sich dieser Zusammenhang an der klostereigenen Textpro-
duktion fassen, da die bewusst vorgenommene Auswahl der res gestae und der
übergeordneten Themen dazu beitragen sollte, eine gemeinsame Identität zu schaf-
fen. Führt man sich noch einmal vor Augen, dass die meisten zeitgenössischen
Historiographen an correctiones erinnerten, indem sie sich darauf beschränkten,
auf die Wiederherstellung von religio, von disciplina oder dem ordo zu verweisen,
und somit auf sehr vage und offene Begriffe und Formulierungen zurückgriffen,
wird die integrierende Absicht dieser Texte deutlich: Diese Begriffe konnten in-
haltlich nämlich ganz unterschiedlich belegt werden und dadurch jeden einzelnen
Mönch und jede innerklösterliche Gruppe ansprechen. Ein Autor wie Hermann
2118 K. Schreiner, Dauer, Niedergang und Erneuerung, S. 295.
2119 C. Meyer, Ch. Dartmann, Einleitung, S. 20.
 
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