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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0632
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Philosophie und Offenbarungsglaube

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weithin in demselben Dilemma befinden, wie sie weithin noch beide versagen, weil
sie sich der gewandelten Wirklichkeit versagen.
Im Mittelalter gab es das reiche Leben des Christentums, die immer neuen Mönchsorden,
die ständig revoltierende Kraft des Glaubensernstes im Denken des Glaubens. Die Kirche sah
sich in der Mitte einer strömenden Flut, aus der sie aufnahm und eingliederte, was ihre eigene
Existenz nicht gefährdete, sie vielmehr mit frischem Blut erfüllte. Die Verwirklichungen und
Schöpfungen, dienichtihr, sondern der Spontaneität des christlichen Lebens entsprangen, ver-
wandelte sie in eigene Kraft. Von ihr bestätigt, bekamen jene neuen Bewegungen eine sie in
der Welt steigernde, aber innerlich meist auch schwächende Geltung. Die Größe der Kirche lag
im Umgang mit diesem Leben und Denken, das ihr ständig entgegengebracht wurde. Alle
Ursprünglichkeit stand damals zu Beginn zweideutig da, bevor sie entweder die Formen ge- 34
wann, durch die sie eingegliedert oder als ketzerisch vernichtet wurde.
Heute scheint es umgekehrt. Alles muß von der Kirche ausgehen und von den Orden. Die Völ-
ker erwarten allein von ihr, was sie einst selber ihr entgegenbrachten. Die Bemühung um Werbung
der Kräfte in den Völkern, den »Laien«, erzeugen nur einen unter günstigen Umständen noch be-
ruhigten vorläufigen Zustand weiteren Dahinlebens. Die Kirchen verwalten nicht mehr einen ih-
nen zuströmenden Reichtum, sondern sollen selber hervorbringen, was sie nicht können. So we-
nig wie die Philosophie sind die Kirchen bisher zum geistigen Kern des Ernstes der modernen Welt
geworden. Die Wandlungen des gesamten Weltzustandes, die Ereignisse in den einzelnen, auf
sich zurückgeworfenen Menschen, deren Umkehrungen und Entschlüsse, deren wirkliche innere
Verfassung, all dies Wesentliche geschieht durchweg außerhalb und neben den Kirchen, auch in
den konfessionell zu ihnen gehörenden Menschen. Es geschieht auch außerhalb der bisher noch
versagenden Philoso \phie, die sich auf ihre zu Hobbies gewordenen Beschäftigungen mit den so- 35
genannten Sachen beschränkt. Beide lassen sich auf die neue Situation der Menschheit und auf
deren unerhörte Forderungen kaum ein. Die den Kirchen in aller Welt und der Philosophie heute
gemeinsame Rhetorik, manchmal anmutend wie das betäubende Trommeln der Naturvölker zur
Abwehr böser Geister, ist überdeckender Lärm. Das alles läuft weiter neben der Wucht des Welt-
geschehens und neben der Existenz des einzelnen Menschen. Der Abgrund zwischen dem Reden
und Tun »als ob« und der Wirklichkeit selber scheint gespenstisch (Seite 79-80).
Also auch die Philosophie bedarf nach Ihrer Ansicht einer Verwandlung und neuen
Erweckung aus ihrem Ursprung. Nun sprechen Sie absichtlich und bewußt vom phi-
losophischen Glauben. Ich frage nicht, was dieser philosophische Glaube ist. Zu deut-
lich machen Sie, daß dieser philosophische Glaube nicht inhaltlich festzulegen sei.
Der philosophisch Glaubende kann nicht predigen, denn er hat nichts zu verkünden.
Aber ich frage Sie: Warum sprechen Sie vom philosophischen Glauben? Wir haben uns
an diesen Ihnen | eigenen Ausdruck gewöhnt, aber gewöhnlich pflegen wir doch ei- 36
nen Unterschied zwischen »Philosophie« und »Glaube« zu konstatieren, ja den ent-
scheidenden Unterschied zwischen beiden gerade darin zu sehen, daß die Philosophie
es nicht mit dem Glauben, sondern mit Denken und Erkennen zu tun hat. Warum also
philosophischer Glaube?
 
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