Philosophie und Offenbarungsglaube
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troffen werden. Im ersten Fall haben wir sie wie ein endloses Material zur Verfügung, im zwei-
ten Fall sondern sie sich nach Fiefe, Rang und Weise der Deutbarkeit.
Die geschichtlichen Chiffern sprechen zu uns heute unter der Voraussetzung, daß wir sie,
indem wir sie in den uns zugänglichen Fiefen erfassen, in der Schwebe halten, ihren Inhalt
we\der als Realität noch als zwingendes Wissen behandeln. Dann erhellen sie unseren Raum 56
und lassen im entscheidenden Augenblick ihre Leuchtkraft als Sprache der Franszendenz
strahlen...
In dem Maße als die Verbindlichkeit für Existenz wächst, wird es mit den Chiffern ernst.
Wir erfahren den unendlichen existentiell wirksamen Reichtum der Chiffernwelt, die gegen-
wärtig ist in der großen Dichtung, Kunst, spekulativen Philosophie, in den Mythen und Of-
fenbarungen (Seite 153-155).
Dazu einige Fragen. Zunächst: Was sind zum Beispiel solche Chiffern, in denen
Transzendenz spricht?
Jaspers
Die Hälfte meines Buches gilt ihrer Entfaltung. Hier wähle ich nur ein Beispiel, das im
Buch nicht ausgeführt worden ist und das schon vorhin anklang: Mose erhält von Gott
auf dem Sinai die Gesetzestafeln, das heißt die Zehn Gebote, und bringt sie dem Volke,
das Gott nicht sieht und nicht sehen will, da dies den Tod brächte. Die einfachen eher-
nen Zehn Gebote - heute so gül|tig wie je - haben das Siegel der Offenbarung. Mose hat 57
sie erfahren, Israel hat sie ihm geglaubt. Ich fühle noch, was ich als yjähriger Junge in
der Vorschule in der Stunde, die Biblische Geschichte hieß (nicht etwa Religionsun-
terricht), erfuhr.678 Ich spüre noch die Energie in der Einfachheit dessen, was hier ge-
sagt wurde. Es prägte sich unauslöschlich tief ein. Wenn die Gebote auch an sich schon
diese Kraft haben und mit der denkenden Erfahrung immer mehr gewinnen, so liegt
doch in ihnen etwas, das durchaus nicht durch Denken begründet ist. Das moralische
Bewußtsein versteht seinen Ernst in der Chiffer von solcher Wucht. Die Erweichung
der Zehn Gebote in der Praxis der modernen Welt ruft gleichsam nach der Chiffer.
Zahrnt
Von welcher Hand sind nun diese Chiffern geschrieben? Sind sie Offenbarung? Wo-
her gelangen sie zu uns, wie gelangen wir zu ihnen? Wie müssen wir sie lesen?
|Jaspers 58
Vielleicht erwarten Sie die Antwort: Von Gott, oder die andere: Sie sind von Menschen
erfunden. Beide Antworten würde ich mir nicht zu eigen machen. Gott ist ein Glied
in der Chiffer des Sinai-Ereignisses. Der Satz, das hätten Menschen erfunden, besagt
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troffen werden. Im ersten Fall haben wir sie wie ein endloses Material zur Verfügung, im zwei-
ten Fall sondern sie sich nach Fiefe, Rang und Weise der Deutbarkeit.
Die geschichtlichen Chiffern sprechen zu uns heute unter der Voraussetzung, daß wir sie,
indem wir sie in den uns zugänglichen Fiefen erfassen, in der Schwebe halten, ihren Inhalt
we\der als Realität noch als zwingendes Wissen behandeln. Dann erhellen sie unseren Raum 56
und lassen im entscheidenden Augenblick ihre Leuchtkraft als Sprache der Franszendenz
strahlen...
In dem Maße als die Verbindlichkeit für Existenz wächst, wird es mit den Chiffern ernst.
Wir erfahren den unendlichen existentiell wirksamen Reichtum der Chiffernwelt, die gegen-
wärtig ist in der großen Dichtung, Kunst, spekulativen Philosophie, in den Mythen und Of-
fenbarungen (Seite 153-155).
Dazu einige Fragen. Zunächst: Was sind zum Beispiel solche Chiffern, in denen
Transzendenz spricht?
Jaspers
Die Hälfte meines Buches gilt ihrer Entfaltung. Hier wähle ich nur ein Beispiel, das im
Buch nicht ausgeführt worden ist und das schon vorhin anklang: Mose erhält von Gott
auf dem Sinai die Gesetzestafeln, das heißt die Zehn Gebote, und bringt sie dem Volke,
das Gott nicht sieht und nicht sehen will, da dies den Tod brächte. Die einfachen eher-
nen Zehn Gebote - heute so gül|tig wie je - haben das Siegel der Offenbarung. Mose hat 57
sie erfahren, Israel hat sie ihm geglaubt. Ich fühle noch, was ich als yjähriger Junge in
der Vorschule in der Stunde, die Biblische Geschichte hieß (nicht etwa Religionsun-
terricht), erfuhr.678 Ich spüre noch die Energie in der Einfachheit dessen, was hier ge-
sagt wurde. Es prägte sich unauslöschlich tief ein. Wenn die Gebote auch an sich schon
diese Kraft haben und mit der denkenden Erfahrung immer mehr gewinnen, so liegt
doch in ihnen etwas, das durchaus nicht durch Denken begründet ist. Das moralische
Bewußtsein versteht seinen Ernst in der Chiffer von solcher Wucht. Die Erweichung
der Zehn Gebote in der Praxis der modernen Welt ruft gleichsam nach der Chiffer.
Zahrnt
Von welcher Hand sind nun diese Chiffern geschrieben? Sind sie Offenbarung? Wo-
her gelangen sie zu uns, wie gelangen wir zu ihnen? Wie müssen wir sie lesen?
|Jaspers 58
Vielleicht erwarten Sie die Antwort: Von Gott, oder die andere: Sie sind von Menschen
erfunden. Beide Antworten würde ich mir nicht zu eigen machen. Gott ist ein Glied
in der Chiffer des Sinai-Ereignisses. Der Satz, das hätten Menschen erfunden, besagt