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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0112
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Stellenkommentar WA 6, KSA 6, S. 24 93

ist sie, wenn sie noch nicht durch den ihr entsprechenden Gegenstand
bestimmt ist. Die Bewegung dieser Empfindung, die Ahnung, ist somit das
unwillkürliche Verlangen der Empfindung nach Bestimmung durch einen
Gegenstand, den sie aus der Kraft ihres Bedürfnisses wiederum selbst voraus-
bestimmt, und zwar als einen solchen, der ihr entsprechen muß, und dessen
sie deßhalb harrt. In seiner Kundgebung als Ahnung möchte ich das Empfin-
dungsvermögen der wohlgestimmten Harfe vergleichen, deren Saiten vom
durchstreifenden Windzuge erklingen, und des Spielers harren, der ihnen
deutliche Akkorde entgreifen soll. / Eine solche ahnungsvolle Stimmung hat
der Dichter uns zu erwecken, um aus ihrem Verlangen heraus uns
selbst zum nothwendigen Mitschöpfer des Kunstwerkes zu
machen." (Wagner 1871-1873, 4, 232 f. = Wagner 1907, 4, 186 f.; die Stelle
wird auch zitiert bei Glasenapp / Stein 1883, 18 f.) In diesem Sinne steht nach
Wagner die Gegenwart der szenischen Erscheinung stets in der Mitte zwischen
Erinnerung und Ahnung, deren Verhältnis zum Ganzen durch die unendliche
Melodie des Orchesters geknüpft wird. In Wagners Oper und Drama wird dieses
Verhältnis auf das Vorbild der ursprünglichen griechischen Tragödie und des-
sen Verhältnis von Chor und Einzelnem zurückgeführt (vgl. Wagner 1907, 4,
190 f.). Die Verknüpfung von Erinnerung und Ahnung des Protagonisten als
einzelne Erscheinung vor dem Hintergrund des ihn einbegreifenden und sich
in ihm ausdrückenden Ganzen strukturiert in Wagners Oper nicht nur die
Anordnung der Leitmotive, sondern parallel dazu auch die Handlung selbst,
vielleicht am deutlichsten in der Figur des Tristan, welcher als Waise nie ganz
heimisch in der Welt wird und sich selbst gegenüber stets einen gewissen Vor-
behalt mit sich trägt. Seine Todessehnsucht ist ihm zugleich eine Art Heimweh
und Ahnung der Ewigkeit (vgl. Wagner 1907, 7, 60 f. u. 65 ff.).
24, 21. f. Vor Allem kein Gedanke! Nichts ist compromittirender als ein
Gedanke!] Vgl. NK KSA 6, 122, 24-29.
24, 24-26 die Welt, wie sie war, bevor Gott sie schuf, — eine Recrudescenz des
Chaos... Das Chaos macht ahnen...] „Rekrudeszenz (lat.), Wiederverschlimmerung
einer Krankheit." (Meyer 1885-1892, 13, 713). Nach Genesis 1, 2 herrschte auf der
Erde bei (vor?) Gottes Schöpfungsakt das Tohuwabohu (mm, inh), die größtmög-
liche Unordnung, eben das Chaos (die Luther-Übersetzung schwächt hier ab:
„Und die Erde war wüste und leer, und es war finster auf der Tiefe". Die Bibel:
Altes Testament 1818, 1). Der Vorwurf, chaotische Musik zu komponieren, gehört
zu den zeitgenössischen Standardeinwänden gegen Wagner: „Chaos. Ein
Chaos von kombinirten Klangwirkungen ist die Oper ,Lohengrin'. (Fetis,
Biographie universelle, 2. Aufl.) J. Stettenheim in Berlin gab 1873
folgendes Gutachten über die ,Tristan'-Einleitung ab: ,Ein wüstes Chaos
 
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