Stellenkommentar WA 6, KSA 6, S. 25 97
der Juden, Kunst zu machen, entsprießt, muß daher nothwendig die Eigen-
schaft der Kälte, der Gleichgiltigkeit, bis zur Trivialität und Lächerlichkeit an
sich haben, und wir müssen die Periode des Judenthums in der modernen
Musik geschichtlich als die der vollendeten Unproduktivität, der verkommen-
den Stabilität bezeichnen." (Wagner 1871-1873, 5, 99 f. = Wagner 1907, 5, 78 f.)
Im Wagner-Lexikon von Glasenapp und Stein ist diese Stelle als locus probans
für Wagners tiefsinnige Gedanken über Leidenschaft angeführt, aber derart
präpariert, dass der antisemitische Kontext ausgeblendet bleibt (Glasenapp /
Stein 1883, 412).
25, 8 f. Man kann aller Tugenden des Contrapunktes entrathen] In NL 1888,
KSA 13, 15[6]4, 406, 7-10 ist N. ausführlicher: „Wagner überredet unbedingt.
,Es giebt nirgendswo ächten Contrapunkt bei Wagner' — so spricht das Hinter-
drein. Aber wozu auch! wir sind im Theater, und es genügt zu glauben, daß es
ihn giebt..." Auch hier greift N. ein Argument aus der zeitgenössischen Wagner-
Diskussion auf: „Contrapunktirer. ,Ein wüster Contrapunktirer ist Richard
Wagner.' (Puschmann.)" (Tappert 1877, 8) Im Verständnis der Zeit ist der
Kontrapunkt „ein besonderer Teil der musikalischen Kunstlehre", nämlich „die
Übung des mehrstimmigen Satzes an nicht bezifferten Aufgaben, d. h. also die
mehrstimmige Aussetzung einer gegebenen Melodie ohne jedweden weitern
Anhalt. Im engern Sinn versteht man unter kontrapunktischer Behandlung der
Stimmen den konzertierenden Stil, in welchem die der Hauptstimme
gegenübertretenden Stimmen nicht bloße harmonische Füllstimmen sind, die
stets in der primitivsten Form die Harmonie ausprägen, in deren Sinn die melo-
dische Phrase zu verstehen ist; vielmehr gestalten sich im konzertierenden
Stil auch die Nebenstimmen melodisch, so daß die Wirkung eines Streitens
(concertatio) der Stimmen miteinander um den Vorrang entsteht. Eine gute
kontrapunktische (polyphone) Stimmführung ist daher die den einzelnen Stim-
men Selbständigkeit gebende." (Meyer 1885-1892, 10, 50) Ein guter Kontra-
punktiker ist also in der Lage, in der Vielheit der Stimmen eine musikalische
Einheit zu stiften. Nach N.s Analyse ist der Dekadenz-Künstler Wagner dazu
gerade nicht mehr in der Lage, es sei denn, er opfert die Selbstständigkeit der
Stimmen einer alles verschlingenden Leidenschaft. Weiter unten in WA 6 wird
das Verhältnis von Kontrapunkt und Tugend im Blick auf den von Wagner
verbreiteten Idealismus rhetorisch invertiert: „Die Tugend behält Recht noch
gegen den Contrapunkt." (25, 33 f.).
25, 17-19 Grundsatz: die Melodie ist unmoralisch. Beweis: Palestrina.
Nutzanwendung: Parsifal. Der Mangel an Melodie heiligt selbst...] Zu N.s
früher Beschäftigung mit der Musik von Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525-
1594), der während der Gegenreformation die italienische Kirchenmusik grund-
der Juden, Kunst zu machen, entsprießt, muß daher nothwendig die Eigen-
schaft der Kälte, der Gleichgiltigkeit, bis zur Trivialität und Lächerlichkeit an
sich haben, und wir müssen die Periode des Judenthums in der modernen
Musik geschichtlich als die der vollendeten Unproduktivität, der verkommen-
den Stabilität bezeichnen." (Wagner 1871-1873, 5, 99 f. = Wagner 1907, 5, 78 f.)
Im Wagner-Lexikon von Glasenapp und Stein ist diese Stelle als locus probans
für Wagners tiefsinnige Gedanken über Leidenschaft angeführt, aber derart
präpariert, dass der antisemitische Kontext ausgeblendet bleibt (Glasenapp /
Stein 1883, 412).
25, 8 f. Man kann aller Tugenden des Contrapunktes entrathen] In NL 1888,
KSA 13, 15[6]4, 406, 7-10 ist N. ausführlicher: „Wagner überredet unbedingt.
,Es giebt nirgendswo ächten Contrapunkt bei Wagner' — so spricht das Hinter-
drein. Aber wozu auch! wir sind im Theater, und es genügt zu glauben, daß es
ihn giebt..." Auch hier greift N. ein Argument aus der zeitgenössischen Wagner-
Diskussion auf: „Contrapunktirer. ,Ein wüster Contrapunktirer ist Richard
Wagner.' (Puschmann.)" (Tappert 1877, 8) Im Verständnis der Zeit ist der
Kontrapunkt „ein besonderer Teil der musikalischen Kunstlehre", nämlich „die
Übung des mehrstimmigen Satzes an nicht bezifferten Aufgaben, d. h. also die
mehrstimmige Aussetzung einer gegebenen Melodie ohne jedweden weitern
Anhalt. Im engern Sinn versteht man unter kontrapunktischer Behandlung der
Stimmen den konzertierenden Stil, in welchem die der Hauptstimme
gegenübertretenden Stimmen nicht bloße harmonische Füllstimmen sind, die
stets in der primitivsten Form die Harmonie ausprägen, in deren Sinn die melo-
dische Phrase zu verstehen ist; vielmehr gestalten sich im konzertierenden
Stil auch die Nebenstimmen melodisch, so daß die Wirkung eines Streitens
(concertatio) der Stimmen miteinander um den Vorrang entsteht. Eine gute
kontrapunktische (polyphone) Stimmführung ist daher die den einzelnen Stim-
men Selbständigkeit gebende." (Meyer 1885-1892, 10, 50) Ein guter Kontra-
punktiker ist also in der Lage, in der Vielheit der Stimmen eine musikalische
Einheit zu stiften. Nach N.s Analyse ist der Dekadenz-Künstler Wagner dazu
gerade nicht mehr in der Lage, es sei denn, er opfert die Selbstständigkeit der
Stimmen einer alles verschlingenden Leidenschaft. Weiter unten in WA 6 wird
das Verhältnis von Kontrapunkt und Tugend im Blick auf den von Wagner
verbreiteten Idealismus rhetorisch invertiert: „Die Tugend behält Recht noch
gegen den Contrapunkt." (25, 33 f.).
25, 17-19 Grundsatz: die Melodie ist unmoralisch. Beweis: Palestrina.
Nutzanwendung: Parsifal. Der Mangel an Melodie heiligt selbst...] Zu N.s
früher Beschäftigung mit der Musik von Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525-
1594), der während der Gegenreformation die italienische Kirchenmusik grund-