234 Götzen-Dämmerung
Machtmittel, der Reue, notiert N. in NL 1888, KSA 13, 14[155], 339, 7-11 (KGW
IX 8, W II 5, 54, 22-28): „diese ganze Praxis der seelischen Wiederherstellung
muß auf eine physiologische Grundlage zurückgestellt werden: der
,Gewissensbiß' als solcher ist ein Hinderniß der Genesung, — man muß Alles
aufzuwiegen suchen durch neue Handlungen und möglichst schnell das
Siechthum der Selbsttortur..."
Während die physiologische Betrachtung die Lebensschädlichkeit, das
Lähmende des Gewissensbisses herausstreicht und als Gegenmittel neue
Handlungen empfiehlt, die offenbar die vergangenen Handlungen vergessen
machen, ist die Überlegung in EH Warum ich so klug bin 1 anti-konsequentia-
listisch: Das Resultat der Handlung soll die Frage ihres Wertes nicht beeinflus-
sen. Impliziert ist dabei, dass es genau dieses Resultat — und nicht beispiels-
weise die falsche Maxime oder Motivation — sei, was den Gewissensbiss
auslöst. GD Sprüche und Pfeile 10 folgt dem vorangehenden Abschnitt 9 in der
adhortativen Form, die sich hier ins Imperativische steigert. 60, 14-16 scheint
ins Feld der normativen Ethik zu gehören, indem ein Sollen unmittelbar vorge-
geben wird. Darin liegt — betont noch durch die altmodisch-moralinsauer klin-
gende Qualifikation der Unanständigkeit — die Pointe von 60, 14-16: Dass hier
nämlich mit normativ ethischem Gestus eine zumindest im christlichen Kon-
text für unhintergehbar gehaltene Voraussetzung normativer Ethik, das
Bereuen des Vergangenen, unterhöhlt wird. Die psychologische Analyse von
JGB 68 suggeriert demgegenüber, dass der Gewissensbiss eine Chimäre sei:
„,Das habe ich gethan' sagt mein Gedächtniss. Das kann ich nicht gethan
haben — sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich — giebt das Gedächt-
niss nach." (KSA 5, 86, 5-7) Die Perspektive ist hier anders als in GD Sprüche
und Pfeile 10, wo es um die Illustration einer Bejahungsphilosophie geht, die
den Gewissensbiss nicht dulden kann. Vgl. NK 63, 18-20.
11
60, 18-20 Kann ein Esel tragisch sein? — Dass man unter einer Last zu
Grunde geht, die man weder tragen, noch abwerfen kann?... Der Fall des Philoso-
phen.] Im Entwurf NL 1888, KSA 13, 15[118], 479, 3 stand statt Esel noch „Pack-
esel". In Besnards Kommentar zu Arnobius, den N. noch in den späten Schaf-
fensjahren las (vgl. Sommer 2000a, 615, Fn. 240), hat sich N. belehren lassen:
„Ihm [sc. Priapos] sind wie dem Dionysos die Esel heilig, ohne Zweifel wegen
der Brunst, durch die sie berüchtigt sind" (Arnobius 1842, 435; vgl. ebd., 436:
„Bei keinem Thier fällt die Brunst so gewaltig und frech auf wie beim Esel.").
Large 1998, 84 erinnert zu 60, 18-20 an den zwischen zwei gleich großen
Machtmittel, der Reue, notiert N. in NL 1888, KSA 13, 14[155], 339, 7-11 (KGW
IX 8, W II 5, 54, 22-28): „diese ganze Praxis der seelischen Wiederherstellung
muß auf eine physiologische Grundlage zurückgestellt werden: der
,Gewissensbiß' als solcher ist ein Hinderniß der Genesung, — man muß Alles
aufzuwiegen suchen durch neue Handlungen und möglichst schnell das
Siechthum der Selbsttortur..."
Während die physiologische Betrachtung die Lebensschädlichkeit, das
Lähmende des Gewissensbisses herausstreicht und als Gegenmittel neue
Handlungen empfiehlt, die offenbar die vergangenen Handlungen vergessen
machen, ist die Überlegung in EH Warum ich so klug bin 1 anti-konsequentia-
listisch: Das Resultat der Handlung soll die Frage ihres Wertes nicht beeinflus-
sen. Impliziert ist dabei, dass es genau dieses Resultat — und nicht beispiels-
weise die falsche Maxime oder Motivation — sei, was den Gewissensbiss
auslöst. GD Sprüche und Pfeile 10 folgt dem vorangehenden Abschnitt 9 in der
adhortativen Form, die sich hier ins Imperativische steigert. 60, 14-16 scheint
ins Feld der normativen Ethik zu gehören, indem ein Sollen unmittelbar vorge-
geben wird. Darin liegt — betont noch durch die altmodisch-moralinsauer klin-
gende Qualifikation der Unanständigkeit — die Pointe von 60, 14-16: Dass hier
nämlich mit normativ ethischem Gestus eine zumindest im christlichen Kon-
text für unhintergehbar gehaltene Voraussetzung normativer Ethik, das
Bereuen des Vergangenen, unterhöhlt wird. Die psychologische Analyse von
JGB 68 suggeriert demgegenüber, dass der Gewissensbiss eine Chimäre sei:
„,Das habe ich gethan' sagt mein Gedächtniss. Das kann ich nicht gethan
haben — sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich — giebt das Gedächt-
niss nach." (KSA 5, 86, 5-7) Die Perspektive ist hier anders als in GD Sprüche
und Pfeile 10, wo es um die Illustration einer Bejahungsphilosophie geht, die
den Gewissensbiss nicht dulden kann. Vgl. NK 63, 18-20.
11
60, 18-20 Kann ein Esel tragisch sein? — Dass man unter einer Last zu
Grunde geht, die man weder tragen, noch abwerfen kann?... Der Fall des Philoso-
phen.] Im Entwurf NL 1888, KSA 13, 15[118], 479, 3 stand statt Esel noch „Pack-
esel". In Besnards Kommentar zu Arnobius, den N. noch in den späten Schaf-
fensjahren las (vgl. Sommer 2000a, 615, Fn. 240), hat sich N. belehren lassen:
„Ihm [sc. Priapos] sind wie dem Dionysos die Esel heilig, ohne Zweifel wegen
der Brunst, durch die sie berüchtigt sind" (Arnobius 1842, 435; vgl. ebd., 436:
„Bei keinem Thier fällt die Brunst so gewaltig und frech auf wie beim Esel.").
Large 1998, 84 erinnert zu 60, 18-20 an den zwischen zwei gleich großen