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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0264
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Stellenkommentar GD Sprüche, KSA 6, S. 62 245

sehen Liedern, die Herzen klingende Tränen nannte, in den langsamen Melo-
dien und in Moll zeigt sich die Melancholie des Bodens und des Klimas am
besten. Zwischen den russischen Gesängen und den canzoni aus Neapel oder
Sizilien, die getränkt sind von der Sonne, liegt die ganze Erdkugel. Das Tröpf-
chen sanfter Traurigkeit in den Volksliedern schattiert den realistischen Grund
des Nationalcharakters mit elegischen Farbtönen. In der Literatur und der
hohen Poesie erhält diese Traurigkeit einen intensiveren und bittereren Beige-
schmack.") Vgl. zur Leroy-Beaulieu-Rezeption NK KSA 6, 272, 14-24. Nicht
belegt ist, dass N. Carlos von Gagerns „Erinnerungen" unter dem Titel Todte
und Lebende gekannt hat. Dort ist einerseits von den „Gesänge[n] des russi-
schen Volkes mit ihren weichen, melancholischen Tönen" die Rede, die „sich
Dir in's Herz hineinstehlen", während sich davon andererseits das englisch-
sprachliche Liedgut unvorteilhaft unterscheide: „Wenn die Verse: / ,Wo man
singt, da laß Dich ruhig nieder, / Böse Menschen haben keine Lieder'— Wahr-
heit enthalten, so ist es nicht gerathen, unter Engländern und Yankees Platz
zu nehmen." (Gagern 1884, 2, 259).
Zur philosophischen Interpretation von 62, 17 f. siehe Poljakova 2006, fer-
ner zur Bosheit bei den Russen die erste Stelle, an der im Nachlass Dostojew-
skij erwähnt wird: „NB! Dem bösen Menschen das gute Gewissen
zurückgeben — ist das mein unwillkürliches Bemühen gewesen? / Und
zwar dem bösen Menschen, insofern er der starke Mensch ist? (Das Urtheil
Dostoijewsky's über die Verbrecher der Gefängnisse ist hierbei anzufüh-
ren.)" (NL 1886/87, KSA 12, 7[6]8, 283, 9-14). Vgl. NK 147, 8-19.
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62, 20 f. „Deutscher Geist": seit achtzehn Jahren eine contradictio in adjecto.]
Die von N. im Frühsommer 1888 gelesene Wagner-Biographie von Ludwig Nohl
hatte z. B. behauptet, parallel mit der Reichsgründung 1870/71 sei in Gestalt
der Musik Wagners auch eine Blüte der Kunst und des Geistes eingetreten:
Wagners „großsinniger König [sc. Ludwig II. von Bayern] hatte im November
1870 zu den übrigen deutschen Fürsten das erlösende Wort gesprochen, das
uns endlich wieder ein würdiges und geachtetes Dasein nach außen schenkte,
das deutsche Reich. Durfte da die deutsche Kunst zurückbleiben? Alles in
unserem Künstler war jetzt Action, wonnevoll erregte und erregende Action."
(Nohl o. J., 86) Gleichzeitig lässt Wagner in Berlin wissen: „Der deutsche Geist
verhalte sich zur Musik wie zur Religion, er verlange Wahrheit, nicht blos
schöne Form, sagte er dort in einer Festversammlung ihm zu Ehren. Wie die
Reformation die Religion der Deutschen tiefer und fester begründet habe,
 
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