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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0281
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262 Götzen-Dämmerung

sagte. [...] Ich wollte, er wäre auch im letzten Augenblicke des Lebens schweig-
sam gewesen, — vielleicht gehörte er dann in eine noch höhere Ordnung der
Geister. War es nun der Tod oder das Gift oder die Frömmigkeit oder die Bos-
heit — irgend Etwas löste ihm in jenem Augenblick die Zunge und er sagte:
,0h Kriton, ich bin dem Asklepios einen Hahn schuldig'. Dieses lächerliche
und furchtbare ,letzte Wort' heisst für Den, der Ohren hat: ,0h Kriton, das
Leben ist eine Krankheit!' Ist es möglich! Ein Mann, wie er, der heiter
und vor Aller Augen wie ein Soldat gelebt hat, — war Pessimist!" Während in
FW 340 die zunächst wohlwollende, ja bewundernde Haltung des sprechenden
Ichs Sokrates gegenüber erst angesichts seiner letzten Worte zu kippen
scheint — Worte, die retrospektiv Sokrates' ganzes Leben in Pessimismusver-
dacht geraten lassen — kehrt N. in GD Das Problem des Sokrates zu seiner
schon in GT 12-15 (KSA 1, 83-102) formulierten, radikalen Sokrates-Kritik
zurück. Während in GT 15, KSA 1, 100, 26, 5 f. „Sokrates das Urbild des theoreti-
schen Optimisten" ist, der dem tragischen Pessimismus entgegensteht, den N.
im Anschluss an Schopenhauer propagiert, hat er sich in FW 340 zum Pessi-
misten, in GD Das Problem des Sokrates schließlich zum decadent und Nihilis-
ten gewandelt, der dieses Leben und diese Welt verneint. Während N. in GT
unter dem Einfluss Schopenhauers und Wagners mit dieser Weltverneinung
noch sympathisiert hat, tritt er im Spätwerk als entschiedener, wenn auch
tragikbewusster Bejaher des Lebens auf. Um Sokrates weiterhin als Antipoden
verwerten zu können, auf dessen Augenhöhe N. sowohl im Blick auf die philo-
sophische als auch auf die gesamtgeschichtliche Bedeutung sein will, muss
er vom Optimisten und Wegbereiter der Wissenschaft zum Pessimisten und
Lebensverneiner umgedeutet werden.
Die letzten Worte des Sokrates, die N. meint, lauten bei Platon: Phaidon
118a: „O Kriton, wir sind dem Asklepios einen Hahn schuldig, entrichtet ihm
den, und versäumt es ja nicht." (Übersetzung Schleiermachers) In den Vorle-
sungsaufzeichnungen Einleitung in das Studium der platonischen Dialoge
erwähnt N. knapp „die letzten Worte über den Hahn" (KGW II 4, 91, 27), ohne
weiter darauf einzugehen. Die in FW 340 und in GD Das Problem des Sokrates 1
vertretene Lesart von Platons letzten Worten knüpft an N.s frühe Begegnung
mit Platon an: Sein Griechischlehrer in Schulpforta, Karl Steinhart (1801-1872),
in dessen Unterricht N. Platon zum ersten Mal las (Janz 1978, 1, 80) — und zwar
in der Prima nach Lehrplan ausdrücklich den Phaidon (Bohley 2007, 226) —,
hatte in seinen Anmerkungen zu Phaidon 118a festgehalten: „,Dem Asklepios
sind wir einen Hahn schuldig'; das gewöhnliche Opfer, welches von einer
Krankheit Genesene dem Gott der Heilkunde darbrachten. Auch Sokrates fühlt
sich im Augenblicke des Sterbens von der Krankheit des Erdenlebens genesen
und von den hemmenden Banden des Körpers befreit." (Steinhart 1854, 577).
 
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