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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0432
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Stellenkommentar GD Streifzüge, KSA 6, S. 113 413

darüber verfassen will. Und während einer Stunde hält er uns eine Art abschät-
zige und säuerliche Predigt, die manchmal sogar in einen fast kindlichen Wut-
anfall mündet. / Nach einer Stunde Schelte im Bezug auf unser gesamtes Buch,
beschuldigt er uns, den Sinn der IMITATIO zu entstellen, dieses sanften Buchs
der Liebe und der Melancholie, und nachdem er Troubat sein Exemplar holen
ließ, zeigt er es uns, gleich einem Herbarium voller trockener Blumen und
Randnotizen. Nun beginnt er, indem er sich gegen die Dämmerung wandte,
näselnd das Latein vorzulesen, welches er mit einer plötzlich veränderten
Stimme buchstabiert, mit einer priesterlichen Stimme, und endlich schließt er
das Buch mit folgendem Satz: ,0h! Darin gibt es eine Liebe... davon kann man
ein Leben lang zehren!' / Und wir sind innerlich in Lachen ausgebrochen,
während wir dachten, der Bischof der Diozöse der Atheisten werde vielleicht
gegenüber unserem Buch die Religion verteidigen.") Der überraschende Über-
gang von Sainte-Beuve zur Imitatio Christi in GD Streifzüge eines Unzeitgemäs-
sen könnte von der Lektüre dieser Stelle inspiriert sein.
113, 12-16 sie haucht einen parfum des Ewig-Weiblichen aus, zu dem man
bereits Franzose sein muss — oder Wagnerianer... Dieser Heilige hat eine Art von
der Liebe zu reden, dass sogar die Pariserinnen neugierig werden.] Vgl. zur Liebe
in der Imitatio die in NK 113, 11 f. mitgeteilte Stelle aus Goncourt 1888, 3, 221.
Eine weitere Inspirationsquelle ist wohl Guyau 1887, 101 (vgl. auch NK KSA 6,
190, 28-34): „Rien dans l'antiquite paienne n'est comparable au chapitre de
l'Imitation sur l'amour. La passion ainsi contenue et detournee monte ä des
hauteurs jusqu'alors inconnues, comme un fleuve qu'on entrave; elle n'en reste
pas moins toujours elle-meme. Que dirons-nous des mystiques visionnaires,
des sainte Therese, des Chantal et des Guyon? La piete ici, dans son exagera-
tion, touche ä la folie de l'amour; sainte Therese eut pu etre une courtisane de
genie, comme elle a ete une sainte. Les physiologistes et les medecins ont sou-
vent observe de nos jours des cas pathologiques analogues, oü l'effusion reli-
gieuse n'est pour ainsi dire qu'une meprise." (Von N. Unterstrichenes kursi-
viert, der Buchtitel im Original kursiv; mehrere Markierungen am rechten
Blattrand. Den Passus mit Theresa von Avila nimmt N. in GM III 17, KSA 5, 380,
5 f. auf. „Nichts in der heidnischen Antike ist vergleichbar mit dem Kapital
über die Liebe in der Imitatio. Die so unterdrückte und zweckentfremdete Lei-
denschaft steigt in bisher ungeahnte Höhen auf wie ein Fluss, der gestaut wird;
dennoch bleibt sie nicht weniger sie selbst. Was werden wir über die visionären
Mystikerinnen, über die Heilige Theresa, Chantal oder Guyon sagen? Diese
Frömmigkeit berührt in ihrer Übertreibung den Wahnsinn der Liebe; die heilige
Theresa hätte genauso gut eine geniale Kurtisane werden können, wie sie eine
Heilige gewesen ist. Die Physiologen und Mediziner haben heutzutage oft ähnli-
che pathologische Fälle beobachtet, wo der religiöse Erguss eigentlich bloß
 
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