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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0471
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452 Götzen-Dämmerung

der „Schwachen" zur Macht ist evolutionär offensichtlich hochgradig erfolg-
reich und gerade mit dem Begriff der „grossen Selbstbeherrschung" nicht (wie
vielleicht zu erwarten wäre) durchweg negativ konnotiert. Im Gegenteil wird
GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 38, KSA 6, 139 f. deutlich machen wollen,
wie notwendig der äußere Druck zur Ausbildung von Exzellenz sei. Die Überle-
gung zur evolutionären Unerlässlichkeit des Geistes akzeptiert für die humane
Entwicklung, um die es hier offensichtlich geht (ohne dass dies ausdrücklich
gesagt würde), die in 120, 21-25 als allgemeine naturphilosophische These ver-
worfene Malthusische Grundvoraussetzung der Darwinischen Evolutionstheo-
rie: Die Voraussetzung für die Entwicklung des Geistes als Mittel der Selbster-
mächtigung der Schwachen ist gerade der Mangel — der Mangel an Macht
zwar diesmal, aber was bedeutet dieser Machtmangel anderes als Mangel an
Ressourcenkontrolle?
Die innere Spannung in GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 14 zeigt, wie
stark experimentell und begrifflich wenig sedimentiert N.s Überlegungen zu
Evolution und Geist sind. N.s Explikation von „Geist" ist vor allem wohl als
Provokation des idealistischen Geistesbegriffes gedacht und entsprechend phy-
siologisch-evolutionär geerdet. Der Begriff Mimikry kommt bei N. erstmals in
M 26, KSA 3, 36, 30 vor, und zwar ebenfalls schon in Relation gesetzt zu
menschlichem Verhalten, zu menschlicher Moral, nämlich als Verstellung und
Verhehlung der eigentlichen Absichten.
Die biologischen Informationen, die KSA 3, 36, 22-30 gibt, sind direkte,
teilweise wörtliche Adaptionen aus Semper 1880, 1, 111 f. und 264 sowie Sem-
per 1880, 2, 232-234 und 251-253 (NPB 547). Die exakte Übertragung auf das
menschliche Verhalten ist hingegen N.s Innovation, während Hellwald 1876, 1,
444 (im Anschluss an Walter Bagehot) und 1877a, 2, 541 Mimikry zwar auch
auf die menschliche Gesellschaft anwendet — „da Mimicry in der Geschichte
der Cultur eine bedeutende Rolle spielt" (Hellwald 1877a, 2, 541) —, aber den
Begriff trotz ausdrücklicher Berufung auf die naturwissenschaftliche Prägung
überwiegend im Sinne von Nachahmung gebraucht. In M 26 werden die „Prak-
tiken, welche in der verfeinerten Gesellschaft gefordert werden" (KSA 3, 36,
14 f.), auf tierisches Mimikry zurückgeführt, um am Ende „das ganze morali-
sche Phänomen als thierhaft zu bezeichnen" (KSA 3, 37, 27 f.). GM II 20, KSA
5, 329, 17-21 engt Mimikry auf das Verhalten der Schwachen, „Sklaven- und
Hörigen-Bevölkerungen" ein, was sich schon in NL 1883, KSA 10, 15[50], 493
und NL 1884, KSA 11, 25[379], 111 abgezeichnet hatte. 121, 6-10 knüpft demge-
genüber an den umfassenderen, durchaus nicht abwertenden Sinn in M 26
an. Zugrunde liegt wiederum Sempers funktionale Definition: „Die Mimicry
oder die Nachahmung eines Thieres durch ein anderes. Bates
und Wallace gaben den obigen Namen allen jenen Fällen von schützenden
 
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