548 Götzen-Dämmerung
chen', die für den einen in der Geschichte einen Fortschritt der Menschheit
bedeutet, sind für den anderen ,Epochen' der Verschlimmerung von Ungerech-
tigkeit und Ungleichheit.") Vgl. auch Brunetiere 1887, 288 f.: „Et tel serait peut-
etre encore ce sentiment de la nature dont on fait honneur ä Rousseau comme
de sa grande decouverte. Car s'il faut aimer la nature, ce ne doit pas etre
jusqu'ä nous y confondre, ni surtout jusqu'ä nous conformer aux legons
d'indifference et d'immoralite qu'elle nous donne. Que serait-ce enfin si de lä
je passais aux conceptions politiques ou sociales du citoyen de Geneve? Depuis
cent ans et plus, nous n'avons pas fait attention qu'en suivant l'impulsion de
Rousseau, nous avions pris un malade pour guide. Et, en restreignant l'obser-
vation ä la seule histoire de la litterature, s'il y a tant de folie melee ä la
grandeur du romantisme /289/ c'est la ,faute ä Rousseau', comme on disait
jadis, et avec verite, mais c'est la faute surtout de sa folie. Oui, la folie meme
de Rousseau, plus que tout le reste peut-etre, a contribue ä son succes en son
temps, ä son influence dans le nötre; et ses fanatiques peuvent bien preferer
cette folie, s'ils le veulent, ä la sagesse de ce monde, mais au moins faut-il
savoir que c'est de la folie." („Und so wäre vielleicht noch dieses Naturgefühl,
das man als große Entdeckung Rousseaus preist. Denn wenn man die Natur
lieben soll, darf diese Liebe wohl kaum so stark sein, dass wir uns mit der
Natur verwechseln, oder dass wir uns sogar mit den Lektionen von Gleichgül-
tigkeit und Immoralität, die sie uns gibt, einverstanden erklären müssten. Was
wäre, wenn ich von hier schließlich zu den politischen oder sozialen Konzep-
ten des Bürgers von Genf übergehen würde? Seit mehr als hundert Jahren
haben wir nicht gemerkt, dass, wenn wir den Antrieben Rousseaus folgen,
wir einen Kranken zum Anführer gewählt haben. Und beschränkt man die
Beobachtung nur auf die eine Geschichte der Literatur: Wenn es so viel Wahn-
sinn gemischt mit der Größe der Romantik gab, /289/ so ist es der ,Fehler
Rousseaus', wie man früher zu sagen pflegte, und das mit Recht, aber eigent-
lich ist es vor allem der Fehler seines Wahnsinns. Ja, der Wahnsinn Rousseaus
hat, mehr als alles andere vielleicht, zu seinem Erfolg in seiner Zeit beigetragen
und zu seinem Einfluss in unserer Zeit; und seine fanatischen Anhänger dürfen
gerne seinen Wahnsinn der Weisheit dieser Welt vorziehen, wenn sie es möch-
ten, aber zumindest muss man sich im Klaren sein, dass es Wahnsinn ist.")
Vgl. zur Brunetiere-Rezeption Kuhn 1989, 602-605, 607 u. 617-626.
150, 11 f. Idealist und canaille in Einer Person] Vgl. NK 150, 17-19.
150, 12-16 der die moralische „Würde" nöthig hatte, um seinen eignen Aspekt
auszuhalten; krank vor zügelloser Eitelkeit und zügelloser Selbstverachtung.
Auch diese Missgeburt, welche sich an die Schwelle der neuen Zeit gelagert hat,
wollte „Rückkehr zur Natur", — wohin, nochmals gefragt, wollte Rousseau
chen', die für den einen in der Geschichte einen Fortschritt der Menschheit
bedeutet, sind für den anderen ,Epochen' der Verschlimmerung von Ungerech-
tigkeit und Ungleichheit.") Vgl. auch Brunetiere 1887, 288 f.: „Et tel serait peut-
etre encore ce sentiment de la nature dont on fait honneur ä Rousseau comme
de sa grande decouverte. Car s'il faut aimer la nature, ce ne doit pas etre
jusqu'ä nous y confondre, ni surtout jusqu'ä nous conformer aux legons
d'indifference et d'immoralite qu'elle nous donne. Que serait-ce enfin si de lä
je passais aux conceptions politiques ou sociales du citoyen de Geneve? Depuis
cent ans et plus, nous n'avons pas fait attention qu'en suivant l'impulsion de
Rousseau, nous avions pris un malade pour guide. Et, en restreignant l'obser-
vation ä la seule histoire de la litterature, s'il y a tant de folie melee ä la
grandeur du romantisme /289/ c'est la ,faute ä Rousseau', comme on disait
jadis, et avec verite, mais c'est la faute surtout de sa folie. Oui, la folie meme
de Rousseau, plus que tout le reste peut-etre, a contribue ä son succes en son
temps, ä son influence dans le nötre; et ses fanatiques peuvent bien preferer
cette folie, s'ils le veulent, ä la sagesse de ce monde, mais au moins faut-il
savoir que c'est de la folie." („Und so wäre vielleicht noch dieses Naturgefühl,
das man als große Entdeckung Rousseaus preist. Denn wenn man die Natur
lieben soll, darf diese Liebe wohl kaum so stark sein, dass wir uns mit der
Natur verwechseln, oder dass wir uns sogar mit den Lektionen von Gleichgül-
tigkeit und Immoralität, die sie uns gibt, einverstanden erklären müssten. Was
wäre, wenn ich von hier schließlich zu den politischen oder sozialen Konzep-
ten des Bürgers von Genf übergehen würde? Seit mehr als hundert Jahren
haben wir nicht gemerkt, dass, wenn wir den Antrieben Rousseaus folgen,
wir einen Kranken zum Anführer gewählt haben. Und beschränkt man die
Beobachtung nur auf die eine Geschichte der Literatur: Wenn es so viel Wahn-
sinn gemischt mit der Größe der Romantik gab, /289/ so ist es der ,Fehler
Rousseaus', wie man früher zu sagen pflegte, und das mit Recht, aber eigent-
lich ist es vor allem der Fehler seines Wahnsinns. Ja, der Wahnsinn Rousseaus
hat, mehr als alles andere vielleicht, zu seinem Erfolg in seiner Zeit beigetragen
und zu seinem Einfluss in unserer Zeit; und seine fanatischen Anhänger dürfen
gerne seinen Wahnsinn der Weisheit dieser Welt vorziehen, wenn sie es möch-
ten, aber zumindest muss man sich im Klaren sein, dass es Wahnsinn ist.")
Vgl. zur Brunetiere-Rezeption Kuhn 1989, 602-605, 607 u. 617-626.
150, 11 f. Idealist und canaille in Einer Person] Vgl. NK 150, 17-19.
150, 12-16 der die moralische „Würde" nöthig hatte, um seinen eignen Aspekt
auszuhalten; krank vor zügelloser Eitelkeit und zügelloser Selbstverachtung.
Auch diese Missgeburt, welche sich an die Schwelle der neuen Zeit gelagert hat,
wollte „Rückkehr zur Natur", — wohin, nochmals gefragt, wollte Rousseau