Stellenkommentar GD Alten, KSA 6, S. 155-156 569
habe. [...] Gleichwol mag Plato bei seinen eminenten Geistesgaben im mündli-
chen Verkehr mit Juden in Ägypten sich Vieles aus ihren heiligen Lehren ange-
eignet haben, vielleicht auch mit Hilfe eines Dollmetschers mit der heiligen
Schrift bekannt geworden sein. Der Timäus des Plato erinnert in seiner
Beschreibung der Weltbildung einigermaaßen an die Mosaische Schöpfungsge-
schichte." (Werner 1861, 1, 304).
N. macht sich mit der Klammerbemerkung 156, 3 also eine alte jüdisch-
und christlich-apologetische Gedankenfigur zunutze und kehrt sie gleichzeitig
um: Der decadent Platon gerät noch weiter ins Zwielicht, wenn er sich mit der
(in AC) als dekadent ausgewiesenen jüdisch-christlichen Tradition liiert haben
sollte.
156, 9 f. Meine Erholung, meine Vorliebe, meine Kur von allem Platonismus
war zu jeder Zeit Thukydides.] Vgl. NK 156, 15-32.
156, 10-14 Thukydides und, vielleicht, der principe Macchiavell's sind mir sel-
ber am meisten verwandt durch den unbedingten Willen, sich Nichts vorzuma-
chen und die Vernunft in der Realität zu sehn, — nicht in der „Vernunft",
noch weniger in der „Moral"...] Die Lektüre des Machiavelli-Kapitels in Gebhart
1887 (NPB 239 f.) wird die Identifikation befördert haben (vgl. Brobjer 2008b,
104); in N.s Bibliothek ist eine französische Ausgabe des Principe erhalten
(Machiavel 1873). Hellwald 1877a, 2, 423 sieht Machiavelli gleichfalls als großen
Realisten: „Ueber Verwerflichkeit oder Zulässigkeit seiner Staatskunst entschei-
det unser jetziges Sittlichkeitsgefühl, dieses hat aber mit der Wahrheit nichts
gemein. Die Wahrheit ist nicht Sittlichkeit, die Sittlichkeit nicht Wahrheit."
(Ähnlich Saint-Victor 1867, 161-166) Zu Thukydides vgl. NK 156, 15-32, zu
Machiavelli auch NK KSA 6, 170, 8-10.
156, 15-32 Von der jämmerlichen Schönfärberei der Griechen in's Ideal, die der
„klassisch gebildete" Jüngling als Lohn für seine Gymnasial-Dressur in's Leben
davonträgt, kurirt Nichts so gründlich als Thukydides. Man muss ihn Zeile für
Zeile umwenden und seine Hintergedanken so deutlich ablesen wie seine Worte:
es giebt wenige so hintergedankenreiche Denker. In ihm kommt die Sophisten-
Cultur, will sagen die Realisten- Cultur, zu ihrem vollendeten Ausdruck:
diese unschätzbare Bewegung inmitten des eben allerwärts losbrechenden
Moral- und Ideal-Schwindels der sokratischen Schulen. Die griechische Philoso-
phie als die decadence des griechischen Instinkts; Thukydides als die grosse
Summe, die letzte Offenbarung jener starken, strengen, harten Thatsächlichkeit,
die dem älteren Hellenen im Instinkte lag. Der Muth vor der Realität unterschei-
det zuletzt solche Naturen wie Thukydides und Plato: Plato ist ein Feigling vor
der Realität, — folglich flüchtet er in's Ideal; Thulcydides hat sich in der
Gewalt, folglich behält er auch die Dinge in der Gewalt...] Die Opposition Pla-
habe. [...] Gleichwol mag Plato bei seinen eminenten Geistesgaben im mündli-
chen Verkehr mit Juden in Ägypten sich Vieles aus ihren heiligen Lehren ange-
eignet haben, vielleicht auch mit Hilfe eines Dollmetschers mit der heiligen
Schrift bekannt geworden sein. Der Timäus des Plato erinnert in seiner
Beschreibung der Weltbildung einigermaaßen an die Mosaische Schöpfungsge-
schichte." (Werner 1861, 1, 304).
N. macht sich mit der Klammerbemerkung 156, 3 also eine alte jüdisch-
und christlich-apologetische Gedankenfigur zunutze und kehrt sie gleichzeitig
um: Der decadent Platon gerät noch weiter ins Zwielicht, wenn er sich mit der
(in AC) als dekadent ausgewiesenen jüdisch-christlichen Tradition liiert haben
sollte.
156, 9 f. Meine Erholung, meine Vorliebe, meine Kur von allem Platonismus
war zu jeder Zeit Thukydides.] Vgl. NK 156, 15-32.
156, 10-14 Thukydides und, vielleicht, der principe Macchiavell's sind mir sel-
ber am meisten verwandt durch den unbedingten Willen, sich Nichts vorzuma-
chen und die Vernunft in der Realität zu sehn, — nicht in der „Vernunft",
noch weniger in der „Moral"...] Die Lektüre des Machiavelli-Kapitels in Gebhart
1887 (NPB 239 f.) wird die Identifikation befördert haben (vgl. Brobjer 2008b,
104); in N.s Bibliothek ist eine französische Ausgabe des Principe erhalten
(Machiavel 1873). Hellwald 1877a, 2, 423 sieht Machiavelli gleichfalls als großen
Realisten: „Ueber Verwerflichkeit oder Zulässigkeit seiner Staatskunst entschei-
det unser jetziges Sittlichkeitsgefühl, dieses hat aber mit der Wahrheit nichts
gemein. Die Wahrheit ist nicht Sittlichkeit, die Sittlichkeit nicht Wahrheit."
(Ähnlich Saint-Victor 1867, 161-166) Zu Thukydides vgl. NK 156, 15-32, zu
Machiavelli auch NK KSA 6, 170, 8-10.
156, 15-32 Von der jämmerlichen Schönfärberei der Griechen in's Ideal, die der
„klassisch gebildete" Jüngling als Lohn für seine Gymnasial-Dressur in's Leben
davonträgt, kurirt Nichts so gründlich als Thukydides. Man muss ihn Zeile für
Zeile umwenden und seine Hintergedanken so deutlich ablesen wie seine Worte:
es giebt wenige so hintergedankenreiche Denker. In ihm kommt die Sophisten-
Cultur, will sagen die Realisten- Cultur, zu ihrem vollendeten Ausdruck:
diese unschätzbare Bewegung inmitten des eben allerwärts losbrechenden
Moral- und Ideal-Schwindels der sokratischen Schulen. Die griechische Philoso-
phie als die decadence des griechischen Instinkts; Thukydides als die grosse
Summe, die letzte Offenbarung jener starken, strengen, harten Thatsächlichkeit,
die dem älteren Hellenen im Instinkte lag. Der Muth vor der Realität unterschei-
det zuletzt solche Naturen wie Thukydides und Plato: Plato ist ein Feigling vor
der Realität, — folglich flüchtet er in's Ideal; Thulcydides hat sich in der
Gewalt, folglich behält er auch die Dinge in der Gewalt...] Die Opposition Pla-