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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0033
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10 Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum

4 Konzeption und Struktur
Im Unterschied etwa zu Götzen-Dämmerung und Ecce homo ist AC als eine
durchgehende polemische Abhandlung komponiert, die aus Vorwort und 62
Abschnitten besteht. Podach 1961 und Montinari (KSA 14, 448-453) weisen
dem Text von AC auch noch das in anderen Manuskriptbeständen überlieferte
Gesetz wider das Christenthum zu (vgl. NK KSA 6, 254). AC war zunächst konzi-
piert als erstes Buch einer auf vier Bücher angelegten „Umwerthung aller Wer-
the", mit der N. eine weltgeschichtliche Umkehr mittels einer Entmachtung
herkömmlicher Moral zu bewirken hoffte. Nach Abschluss von AC stellte er
eine Fortführung des „Umwerthungs"-Unternehmens zunächst zurück. Von
Ende November 1888 an betrachtete er AC als die ganze „Umwerthung", die
weiterer Teile nicht mehr bedürfe. Der Untertitel, in Entwürfen zunächst „Ver-
such einer Kritik des Christenthums" (so auch in den verfälschten Editionen
ab 1895), wurde geändert in „Fluch auf das Christenthum"; den Hinweis auf
die ursprünglich ebenfalls als Untertitel geführte „Umwerthung aller Werthe"
strich N. schließlich ebenfalls.
AC will in mehreren gedanklichen Anläufen den Nachweis erbringen, dass
das Christentum ein allen natürlichen Lebensregungen feindliches Produkt des
Nihilismus sei. Obwohl das Vorwort den gewöhnlichen Leser zunächst
abweist — „Dies Buch gehört den Wenigsten" (167, 2) —, handelt es sich um
ein Werk, das N. nach eigenem brieflichem Bekunden für ein Massenpublikum
vorsah. Die Kritik, deren Wertungsgrundsätze die Abschnitte 1 bis 7 erläutern,
wird aus der „Wir"-Perspektive von „Hyperboreern" geäußert, denen alles als
gut gilt, „was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im
Menschen erhöht" (170, 2 f.), als schlecht hingegen, was aus Schwäche stammt.
Während die christliche (und Schopenhauerische) Tugend des Mitleidens als
Mit-Leiden mit den Schwachen scharfer Kritik verfällt, wird die Züchtung eines
höheren Typus Mensch propagiert. Gegen diese um traditionelle Moralen
unbekümmerten Starken habe das Christentum einen „Todkrieg" (171, 20)
angezettelt. Werte der decadence hätten in der Moderne die Oberhand gewon-
nen, wofür das Christentum unmittelbar verantwortlich gemacht wird. Gerade
im Mitleid überrede, so N., das Christentum zum Nichts, verneine es das Leben.
Die Abschnitte 8 bis 14 denunzieren die abendländische Philosophie als
ein von der Theologie zuinnerst verdorbenes Unternehmen. Das zeige sich ins-
besondere an der durch den Protestantismus bestimmten deutschen Philoso-
phie, namentlich bei Kant. Der Philosoph erscheine fast überall als „die Weiter-
entwicklung des priesterlichen Typus" (178, 27), während die neu proklamierte
Philosophie skeptisch, wissenschaftlich-methodisch und bescheiden sein
soll — bescheiden insbesondere in anthropologischer Hinsicht, sei doch der
 
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