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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0043
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20 Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum

Das griechische Präfix dvri ist für sich genommen schon amphibolisch —
meint „gegen" und „an Stelle von" (vgl. zu N.s Gebrauch der lateinischen Prä-
position „contra" NK KSA 6, 413, 1). Der Gegner des Christus muss nicht derje-
nige sein, der — oder, im Falle eines Buches: dasjenige, das — die Stellung des
Christus künftig für sich reklamiert. Auch das Suffix ,,-christ" ist in der deut-
schen Sprache mehrdeutig: Es kann sich erstens auf Christus als Titel einer
Person, zweitens auf diese Person selber oder drittens auf den Christen (chris-
tianus) beziehen, der glaubt, dass die fragliche Person der Christus, der
Gesalbte Gottes oder gar Gottes Sohn sei. Im ersten Fall würde mit dem „Anti"
die Verbindung zwischen historischer Person (Jesus) und Glaubensinhalt
(Jesus ist der Christus) gekappt, im dritten diejenige zwischen dem Gläubigen
und dem Glaubensinhalt. Nur der zweite Fall, dass sich „Antichrist" nämlich
gegen Jesus als Person richte, lässt sich bei einer ersten Lektüre von AC aus-
schließen, freilich auch nur, sofern oivTi „gegen" bedeuten soll: Die anderen
Kombinationen lassen sich nicht von vornherein abweisen.
Wer sein Werk und mittelbar sich selber — nicht wie seit der Zeit Fried-
richs II. von Hohenstaufen den Gegner, wahlweise die kaiserliche oder die
päpstliche Partei — als den Antichrist bezeichnete, dem kann es bei der dama-
ligen Prominenz des theologischen Liberalismus nicht nur um einen Scherz
gegangen sein (N. kannte übrigens auch den mittelalterlichen Ludus de Anti-
christo wenigstens dem Titel nach, vgl. NL 1873, KSA 7, 29[150], 695, 15 f.). Das
eschatologische Antichrist-Motiv hatte unter dem Vorzeichen seiner rationalis-
tischen Interpretation im Zuge der Aufklärung eine fast vollständige Entleerung
erlebt. Symptomatisch ist dafür etwa Schopenhauer, der den Antichrist als
volkstümlichen Ausdruck für die Leugnung der moralischen Bedeutung der
Welt sieht, vgl. Parerga II 8: Zur Ethik § 110: „Daß die Welt bloß eine physische,
keine moralische, Bedeutung habe, ist der grösste, der verderblichste, der fun-
damentale Irrthum, die eigentliche Perversität der Gesinnung, und ist wohl
im Grunde auch Das, was der Glaube als den Antichrist personificirt hat."
(Schopenhauer 1873-1874, 6, 215 — in N.s Exemplar mit Eselsohr markiert).
Man kann (wie Salaquarda 1973, 110-125) diese Schopenhauer-Stelle für
den unmittelbaren Anlass der antichristlichen Selbstprädikation halten, ver-
steht sich N. doch als Leugner der moralischen Weltordnung, gegen den Scho-
penhauer das Antichrist-Verdikt gerade bemüht. N. spielt auf die Stelle, freilich
ohne Nennung der Antichrist-Figur, auch in GT Versuch einer Selbstkritik 5,
KSA 1, 17, 29-32 an. Dennoch lässt sich Antichristentum bei N. nicht auf Im-
moralismus reduzieren — im ursprünglichen Plan zur „Umwerthung aller Wer-
the" war dem „Immorallsten" ein eigenes Buch vorbehalten (NL 1888, KSA 13,
19[8], 545, 21 f.). Schopenhauer ist beileibe nicht die einzige Inspirationsquelle
für N.s Gebrauch der Vokabel „Antichrist"; „,Antichrist' ist schlagendste pole-
 
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