24 Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum
in ihr Gegenteil. Die politisch-agitatorischen Absichten, die N. mit AC spätes-
tens im November 1888 verfolgt, wenn er ihn in Millionenauflagen in allen
„europäischen Hauptsprachen" herausbringen will (N. an Georg Brandes,
Anfang Dezember 1888, KSB 8, Nr. 1170, S. 500, Z. 17), laufen dem esoterischen
Gestus des Vorworts völlig entgegen.
167, 2-4 Vielleicht lebt selbst noch Keiner von ihnen. Es mögen die sein, welche
meinen Zarathustra verstehn] Also sprach Zarathustra war noch „für Alle und
Keinen" (Za I Motto, KSA 4, 9) bestimmt, so dass jeder sich für angesprochen
halten konnte. Mit „Lesen als Kunst" — soweit es sich dem „Wieder-
käuen" (GM Vorrede 8, KSA 5, 256) verschrieb — konnte der Weg zur Genealo-
gie der Moral geebnet werden. Nun zieht N. selbst die bei solcher Lektüre
erworbenen Fähigkeiten seiner Leser in Zweifel. Die „Wenigsten", die das Kom-
mende verstehen, „mögen" (167, 3) zwar dieselben sein, die den Zarathustra
verstehen — sicher ist dies aber nicht (anders Löwith 1987b, 473).
167, 5 f. Erst das Übermorgen gehört mir. Einige werden posthu(m) geboren.]
Vgl. NK KSA 6, 61, 10-12 u. EH Warum ich so gute Bücher schreibe 1, KSA 6,
298, 7 f.: „Ich selber bin noch nicht an der Zeit, Einige werden posthum gebo-
ren." Auch der „tolle Mensch" in FW 125 stellt nach der betretenen Reaktion
der Menschen auf die Gottestod- und Gottesmord-Diagnose fest: „Ich komme
zu früh, sagte er dann, ich bin noch nicht an der Zeit." (KSA 3, 481, 29 f., vgl.
auch Detering 2010, 122) N. spricht in 167, 5 f. nicht von einer Wiedergeburt,
sondern von einer Geburt, womit er das ganze Gewicht seiner jetzigen Exis-
tenz, seines Schon-geboren-Seins in die Zukunft verlagert. Er setzt sich damit
in metaphorische Analogie zum auferstandenen johanneischen Christus, des-
sen Gespräch ,zu Lebzeiten' mit Nikodemus über die geistige (Wieder-)Geburt
überdies von ähnlichem Selbstbewusstsein zeugt wie das Vorwort zu AC
(Johannes 3). Wenn N. von der Zukunft Besitz ergreift, von der niemand weiß,
wann sie ihr Versprechen einlösen wird, dispensiert er sich von allen Verbind-
lichkeiten, die sich ein Autor sonst auferlegt, wenn er in der Vorrede einen Pakt
mit seinen Leserinnen und Lesern schließt. Überlegungen zu Zeitstrukturen bei
N. im Anschluss an 167, 5 f. stellt Large 1994 an.
167, 7-9 Die Bedingungen, unter denen man mich versteht und dann mit
Nothwendigkeit versteht (, —) ich kenne sie nur zu genau.] Das Leser-Profil,
das im Folgenden aufgestellt wird, ist freilich in hohem Grade metaphorisch
unbestimmt und erlaubt niemandem zu entscheiden, wann er dieses Profil
erfüllt, vgl. auch NK KSA 6, 303, 25-28. Verstandenwerden ist nicht mehr unab-
dingbares kommunikationstheoretisches Postulat der Autor-Leser-Beziehung,
sondern eher als Forderung einer zweifelhaften demokratischen Moral ver-
dächtig: Nicht das Verstehen, sondern das Missverstehen ist der Normalfall,
in ihr Gegenteil. Die politisch-agitatorischen Absichten, die N. mit AC spätes-
tens im November 1888 verfolgt, wenn er ihn in Millionenauflagen in allen
„europäischen Hauptsprachen" herausbringen will (N. an Georg Brandes,
Anfang Dezember 1888, KSB 8, Nr. 1170, S. 500, Z. 17), laufen dem esoterischen
Gestus des Vorworts völlig entgegen.
167, 2-4 Vielleicht lebt selbst noch Keiner von ihnen. Es mögen die sein, welche
meinen Zarathustra verstehn] Also sprach Zarathustra war noch „für Alle und
Keinen" (Za I Motto, KSA 4, 9) bestimmt, so dass jeder sich für angesprochen
halten konnte. Mit „Lesen als Kunst" — soweit es sich dem „Wieder-
käuen" (GM Vorrede 8, KSA 5, 256) verschrieb — konnte der Weg zur Genealo-
gie der Moral geebnet werden. Nun zieht N. selbst die bei solcher Lektüre
erworbenen Fähigkeiten seiner Leser in Zweifel. Die „Wenigsten", die das Kom-
mende verstehen, „mögen" (167, 3) zwar dieselben sein, die den Zarathustra
verstehen — sicher ist dies aber nicht (anders Löwith 1987b, 473).
167, 5 f. Erst das Übermorgen gehört mir. Einige werden posthu(m) geboren.]
Vgl. NK KSA 6, 61, 10-12 u. EH Warum ich so gute Bücher schreibe 1, KSA 6,
298, 7 f.: „Ich selber bin noch nicht an der Zeit, Einige werden posthum gebo-
ren." Auch der „tolle Mensch" in FW 125 stellt nach der betretenen Reaktion
der Menschen auf die Gottestod- und Gottesmord-Diagnose fest: „Ich komme
zu früh, sagte er dann, ich bin noch nicht an der Zeit." (KSA 3, 481, 29 f., vgl.
auch Detering 2010, 122) N. spricht in 167, 5 f. nicht von einer Wiedergeburt,
sondern von einer Geburt, womit er das ganze Gewicht seiner jetzigen Exis-
tenz, seines Schon-geboren-Seins in die Zukunft verlagert. Er setzt sich damit
in metaphorische Analogie zum auferstandenen johanneischen Christus, des-
sen Gespräch ,zu Lebzeiten' mit Nikodemus über die geistige (Wieder-)Geburt
überdies von ähnlichem Selbstbewusstsein zeugt wie das Vorwort zu AC
(Johannes 3). Wenn N. von der Zukunft Besitz ergreift, von der niemand weiß,
wann sie ihr Versprechen einlösen wird, dispensiert er sich von allen Verbind-
lichkeiten, die sich ein Autor sonst auferlegt, wenn er in der Vorrede einen Pakt
mit seinen Leserinnen und Lesern schließt. Überlegungen zu Zeitstrukturen bei
N. im Anschluss an 167, 5 f. stellt Large 1994 an.
167, 7-9 Die Bedingungen, unter denen man mich versteht und dann mit
Nothwendigkeit versteht (, —) ich kenne sie nur zu genau.] Das Leser-Profil,
das im Folgenden aufgestellt wird, ist freilich in hohem Grade metaphorisch
unbestimmt und erlaubt niemandem zu entscheiden, wann er dieses Profil
erfüllt, vgl. auch NK KSA 6, 303, 25-28. Verstandenwerden ist nicht mehr unab-
dingbares kommunikationstheoretisches Postulat der Autor-Leser-Beziehung,
sondern eher als Forderung einer zweifelhaften demokratischen Moral ver-
dächtig: Nicht das Verstehen, sondern das Missverstehen ist der Normalfall,