44 Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum
171, 11 mit denen] Korrigiert im Druckmanuskript aus: „worin" (KSA 14, 437).
171, 13 eine Art Übermensch] Es handelt sich um die einzige Stelle in AC, wo
N.s berühmtes Stichwort vorkommt. Diese „Art Übermensch" dient als Maßstab,
der es erlaubt, die restlichen Menschen für entwicklungsgeschichtlich irrelevant
zu halten. N. konterkariert die fortschrittsoptimistische Gattungsgeschichtsbe-
trachtung nicht mit einer nihilistischen, der alle Ergebnisse in der Geschichte
gleichgültig wären, sondern setzt an die Stelle der Menschheit ein anderes
Handlungssubjekt als Projektionsfläche seiner welthistorischen Hoffnungen.
Das alternative Geschichtsmodell ist also nicht die Ewige Wiederkunft, die N.
andernorts gegen die Fortschrittserwartung ins Feld führt (vgl. dazu Cancik
1998, v. a. 25-30). Das Handlungssubjekt ist nun nicht mehr das Allgemeine
und Ganze — „die Menschheit" der klassischen spekulativ-universalistischen
Geschichtsphilosophie (vgl. Sommer 2006c, 351-369) —, sondern vielmehr das
Einmalige und Besondere. Im Unterschied zur christlichen Erlösungslehre, die
ebenfalls einem einzelnen Menschen die welthistorische Schlüsselrolle zuweist,
sind es in der antichristlichen Konstruktion jedoch nicht die Vielen, zugunsten
derer der große Einzelne handelt: Die höheren Menschen sind Selbstzweck;
ihnen liegt kein Gemeinwohl und keine allgemeine Wohlfahrt am Herzen. Die
„Erhöhung, Steigerung, Verstärkung" (171, 8), die sie erfahren, nützt nur ihnen
selbst — für die anderen, nicht herausragenden Menschen sind sie eher eine
Bedrohung (vgl. z. B. GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 14).
Eine Vorarbeit zu AC 4 trägt ausdrücklich den Titel „Der Übermensch"
(NL 1888, KSA 13, 11[413], 191, 1 = KGW IX 7, W II 3, 5, 26). Dort wird in einem
nachgestellten, in AC 4 fehlenden Absatz der progressivistische Eurozentris-
mus noch heftiger attackiert: „Von den ältesten uns errathbaren Zeiten der
indischen, ägyptischen und chinesischen Cultur bis heute ist der höhere
Typus Mensch viel gleichartiger als man denkt..." (KSA 13, 191, 20-22 =
KGW IX 7, W II 3, 5, 42-52). Diese erheblich längere Vorstufe franst thematisch
aus; sie will neben der Kritik an der Fortschrittsideologie die Anrüchigkeit des
„Demokratismus" (KSA 13, 191, 33 = KGW IX 7, W II 3, 5, 12) beweisen und,
dass die „europäische Cultur" „heute sich wieder jenem [...] Zustand von philo-
sophischer Mürbigkeit und Spätcultur [...] annähert, aus dem die Entstehung
eines Buddhism begreiflich wird" (KSA 13, 191, 26-29, korrigiert nach KGW IX
7, W II 3, 5, 54-59; in der ursprünglichen Fassung lautet dieselbe Passage aller-
dings nach KGW IX 7, W II, 3, 5, 54-60: „Man vergißt, wie unsere europäische
Cultur heute noch lange nicht den Zustand von philosophischer Mürbigkeit
und Spätcultur darstellt [später zwischenzeitlich von N. verbessert in: ,wieder
erreicht hat'], um die Entstehung eines Buddhism begreiflich zu machen").
Interessant ist, dass N. hier vor allem eine Grundfigur der spekulativ-uni-
versalistischen Geschichtsphilosophie der Aufklärungszeit kassiert, nämlich
171, 11 mit denen] Korrigiert im Druckmanuskript aus: „worin" (KSA 14, 437).
171, 13 eine Art Übermensch] Es handelt sich um die einzige Stelle in AC, wo
N.s berühmtes Stichwort vorkommt. Diese „Art Übermensch" dient als Maßstab,
der es erlaubt, die restlichen Menschen für entwicklungsgeschichtlich irrelevant
zu halten. N. konterkariert die fortschrittsoptimistische Gattungsgeschichtsbe-
trachtung nicht mit einer nihilistischen, der alle Ergebnisse in der Geschichte
gleichgültig wären, sondern setzt an die Stelle der Menschheit ein anderes
Handlungssubjekt als Projektionsfläche seiner welthistorischen Hoffnungen.
Das alternative Geschichtsmodell ist also nicht die Ewige Wiederkunft, die N.
andernorts gegen die Fortschrittserwartung ins Feld führt (vgl. dazu Cancik
1998, v. a. 25-30). Das Handlungssubjekt ist nun nicht mehr das Allgemeine
und Ganze — „die Menschheit" der klassischen spekulativ-universalistischen
Geschichtsphilosophie (vgl. Sommer 2006c, 351-369) —, sondern vielmehr das
Einmalige und Besondere. Im Unterschied zur christlichen Erlösungslehre, die
ebenfalls einem einzelnen Menschen die welthistorische Schlüsselrolle zuweist,
sind es in der antichristlichen Konstruktion jedoch nicht die Vielen, zugunsten
derer der große Einzelne handelt: Die höheren Menschen sind Selbstzweck;
ihnen liegt kein Gemeinwohl und keine allgemeine Wohlfahrt am Herzen. Die
„Erhöhung, Steigerung, Verstärkung" (171, 8), die sie erfahren, nützt nur ihnen
selbst — für die anderen, nicht herausragenden Menschen sind sie eher eine
Bedrohung (vgl. z. B. GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 14).
Eine Vorarbeit zu AC 4 trägt ausdrücklich den Titel „Der Übermensch"
(NL 1888, KSA 13, 11[413], 191, 1 = KGW IX 7, W II 3, 5, 26). Dort wird in einem
nachgestellten, in AC 4 fehlenden Absatz der progressivistische Eurozentris-
mus noch heftiger attackiert: „Von den ältesten uns errathbaren Zeiten der
indischen, ägyptischen und chinesischen Cultur bis heute ist der höhere
Typus Mensch viel gleichartiger als man denkt..." (KSA 13, 191, 20-22 =
KGW IX 7, W II 3, 5, 42-52). Diese erheblich längere Vorstufe franst thematisch
aus; sie will neben der Kritik an der Fortschrittsideologie die Anrüchigkeit des
„Demokratismus" (KSA 13, 191, 33 = KGW IX 7, W II 3, 5, 12) beweisen und,
dass die „europäische Cultur" „heute sich wieder jenem [...] Zustand von philo-
sophischer Mürbigkeit und Spätcultur [...] annähert, aus dem die Entstehung
eines Buddhism begreiflich wird" (KSA 13, 191, 26-29, korrigiert nach KGW IX
7, W II 3, 5, 54-59; in der ursprünglichen Fassung lautet dieselbe Passage aller-
dings nach KGW IX 7, W II, 3, 5, 54-60: „Man vergißt, wie unsere europäische
Cultur heute noch lange nicht den Zustand von philosophischer Mürbigkeit
und Spätcultur darstellt [später zwischenzeitlich von N. verbessert in: ,wieder
erreicht hat'], um die Entstehung eines Buddhism begreiflich zu machen").
Interessant ist, dass N. hier vor allem eine Grundfigur der spekulativ-uni-
versalistischen Geschichtsphilosophie der Aufklärungszeit kassiert, nämlich