48 Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum
172, 10-14 Ich verstehe Verdorbenheit, man erräth es bereits, im Sinne von
decadence: meine Behauptung ist, dass alle Werthe, in denen jetzt die Mensch-
heit ihre oberste Wünschbarkeit zusammenfasst, decadence-Werthe sind.]
Auffällig sind die Verallgemeinerungen in der Diagnose: „die Menschheit",
„alle Werthe", „oberste Wünschbarkeit". N. oder sein Buch steht dieser allge-
meinen Verdorbenheit (wie schon in AC Vorwort, KSA 6, 168, 1) ganz allein
gegenüber. Diese Singularität legitimiert den bestimmten Artikel hinlänglich:
N. oder das Buch will der Antichrist sein.
172, 11 decadence] Zur Begriffsgeschichte siehe NK KSA 6, 11, 21 f., zur Inter-
pretation NK KSA 6, 67, 18 und 71, 14.
172, 15-17 Ich nenne ein Thier, eine Gattung, ein Individuum verdorben, wenn
es seine Instinkte verliert, wenn es wählt, wenn es vorzieht, was ihm nachthei-
lig ist.] Diese „Verdorbenheit" steht in pointiertem Gegensatz zur Verdorben-
heit, wie sie die christliche Erbsündenlehre nach AC 5 behauptet hat: nicht die
Erbsünde verderbe, sondern die Lehre von der Erbsünde. In AC 6 gibt N. eine
Definition der decadence als Instinktabirrung und artikuliert damit ein zentra-
les Denkmotiv des Spätwerks, vgl. z. B. NK KSA 6, 67, 18. Dass der Mensch als
Tier unter Tieren erscheint, ist Ausdruck einer konsequenten Naturalisierung,
die AC 14, KSA 6, 180 f. breiter entfaltet. Ein nicht geringes systematisches Pro-
blem gibt die Dekadenzdiagnose AC 6 auf, ohne dass N. auch nur beiläufig
darauf einginge: Wie verhält sich der in Kategorien entwicklungsgeschichtli-
cher Zwangsläufigkeit beschriebene Instinktverlust zur (individuellen) Wahl
dessen, was „nachtheilig" (172, 17) ist? (Zur Fere-Anleihe an dieser Stelle vgl.
Wahrig-Schmidt 1988, 455) Eine Wahl wird 172, 16 ausdrücklich unterstellt, so
dass sich die Frage aufdrängt, ob damit ein (wovon auch immer) freies Wählen
gemeint sei. Dies wäre anzunehmen, sofern die Enthüllung des Verdorben-
heitsschauspiels in AC 6 auf irgendeinen praktischen Effekt zielt und nicht
bloße Tatsachenbeschreibung bleiben soll. Denn dann müsste es in der Macht
der Verdorbenen oder zumindest der von Verdorbenheit Bedrohten liegen,
ihrem Schicksal eine Wendung zu geben und zu ihrer wahren Bestimmung
zurückzukehren. Man muss sich dazu entschließen können, die „Instinkte"
des Lebens zu realisieren. Dann aber wäre Instinktabirrung keine natürliche
Gegebenheit, keine einem Mangel an natürlicher Ausstattung geschuldete
Krankheit, sondern das Produkt von Entscheidung. Ein zweites Problem lauert
im Hintergrund von AC 6: Wie steht es mit dem Verhältnis von Einzelwesen
und von Gesamtheit zur decadence? Der fragliche Satz bringt beides in einer
Apposition: „ein Thier, eine Gattung, ein Individuum" (172, 15). Aber inwiefern
ist es vergleichbar, wenn „eine Gattung" ihre Instinkte verliert — das heißt: im
Laufe ihres Entwicklungs-, vielleicht Zivilisationsprozesses, nicht als Folge
172, 10-14 Ich verstehe Verdorbenheit, man erräth es bereits, im Sinne von
decadence: meine Behauptung ist, dass alle Werthe, in denen jetzt die Mensch-
heit ihre oberste Wünschbarkeit zusammenfasst, decadence-Werthe sind.]
Auffällig sind die Verallgemeinerungen in der Diagnose: „die Menschheit",
„alle Werthe", „oberste Wünschbarkeit". N. oder sein Buch steht dieser allge-
meinen Verdorbenheit (wie schon in AC Vorwort, KSA 6, 168, 1) ganz allein
gegenüber. Diese Singularität legitimiert den bestimmten Artikel hinlänglich:
N. oder das Buch will der Antichrist sein.
172, 11 decadence] Zur Begriffsgeschichte siehe NK KSA 6, 11, 21 f., zur Inter-
pretation NK KSA 6, 67, 18 und 71, 14.
172, 15-17 Ich nenne ein Thier, eine Gattung, ein Individuum verdorben, wenn
es seine Instinkte verliert, wenn es wählt, wenn es vorzieht, was ihm nachthei-
lig ist.] Diese „Verdorbenheit" steht in pointiertem Gegensatz zur Verdorben-
heit, wie sie die christliche Erbsündenlehre nach AC 5 behauptet hat: nicht die
Erbsünde verderbe, sondern die Lehre von der Erbsünde. In AC 6 gibt N. eine
Definition der decadence als Instinktabirrung und artikuliert damit ein zentra-
les Denkmotiv des Spätwerks, vgl. z. B. NK KSA 6, 67, 18. Dass der Mensch als
Tier unter Tieren erscheint, ist Ausdruck einer konsequenten Naturalisierung,
die AC 14, KSA 6, 180 f. breiter entfaltet. Ein nicht geringes systematisches Pro-
blem gibt die Dekadenzdiagnose AC 6 auf, ohne dass N. auch nur beiläufig
darauf einginge: Wie verhält sich der in Kategorien entwicklungsgeschichtli-
cher Zwangsläufigkeit beschriebene Instinktverlust zur (individuellen) Wahl
dessen, was „nachtheilig" (172, 17) ist? (Zur Fere-Anleihe an dieser Stelle vgl.
Wahrig-Schmidt 1988, 455) Eine Wahl wird 172, 16 ausdrücklich unterstellt, so
dass sich die Frage aufdrängt, ob damit ein (wovon auch immer) freies Wählen
gemeint sei. Dies wäre anzunehmen, sofern die Enthüllung des Verdorben-
heitsschauspiels in AC 6 auf irgendeinen praktischen Effekt zielt und nicht
bloße Tatsachenbeschreibung bleiben soll. Denn dann müsste es in der Macht
der Verdorbenen oder zumindest der von Verdorbenheit Bedrohten liegen,
ihrem Schicksal eine Wendung zu geben und zu ihrer wahren Bestimmung
zurückzukehren. Man muss sich dazu entschließen können, die „Instinkte"
des Lebens zu realisieren. Dann aber wäre Instinktabirrung keine natürliche
Gegebenheit, keine einem Mangel an natürlicher Ausstattung geschuldete
Krankheit, sondern das Produkt von Entscheidung. Ein zweites Problem lauert
im Hintergrund von AC 6: Wie steht es mit dem Verhältnis von Einzelwesen
und von Gesamtheit zur decadence? Der fragliche Satz bringt beides in einer
Apposition: „ein Thier, eine Gattung, ein Individuum" (172, 15). Aber inwiefern
ist es vergleichbar, wenn „eine Gattung" ihre Instinkte verliert — das heißt: im
Laufe ihres Entwicklungs-, vielleicht Zivilisationsprozesses, nicht als Folge