Stellenkommentar AC 7, KSA 6, S. 172-173 55
Mitleid das oberste sittliche Motiv, bei Kant ist es gar keines, es gilt ihm für
einen blos passiven, gerührten, ohnmächtigen Zustand. Das fremde Leiden
steckt uns an. Das Mitleid ist nichts anderes als eine solche /272/ Ansteckung,
ein pathologisches, kein praktisches Gefühl. Was hilft es, wenn ich mitleide?
Was hilft es, wenn statt des Einen, den das Uebel trifft, jetzt ihrer zwei leiden?
Der Eine leidet in Wahrheit, der Andere in der Einbildung. Wozu das imaginäre
Leiden? So erscheint in den Augen Kant's das Mitleid als eine Verschwendung
der Gefühle in Betreff der moralischen Gesundheit, als ein Parasit, den man
nicht nähren muß. ,Es kann unmöglich Pflicht sein, die Uebel in der Welt zu
vermehren.' Das Mitleid ist eine solche unnöthige Vermehrung. Helfen, wo und
soviel man kann; wo man es nicht kann, sich nicht durch eingebildete Gefühle
verweichlichen und zum Handeln unfähig machen: das ist Kant's dem Mitleid
widersprechende Moral. Das Mitleid ist pathologisch, es beruht nicht auf Maxi-
men, sondern auf Affecten." (Fischer 1860, 2, 271 f. Spätere Auflagen bringen
genau die von N. benutzte Wendung: „So erscheint in den Augen Kants das
Mitleid als eine Verschwendung der Gefühle, als ein der moralischen Gesund-
heit schädlicher Parasit, den man sich hüten solle zu nähren." — Fischer 1889,
2, 192).
Die Parasitismus-Metaphorik ist Fischers Zugabe, die N. gerne aufgreift,
weil sie sich in seine Strategien der Pathologisierung einpassen lässt. Es ent-
behrt nicht der Ironie, dass N. sein Hauptargument gegen das Mitleid ausge-
rechnet von Kant bezieht, den er in AC 10 bis 11 (wiederum auf der Grundlage
von Fischers Buch) aufs schärfste als theologisch kontaminiert verurteilt.
Bezeichnenderweise lässt er in seiner Kant-Adaption gerade den Passus weg,
demzufolge man tätig helfen solle, statt mitleidig zu sein. Zu N.s Fischer-Adap-
tion im Falle Feuerbachs siehe NK KSA 6, 431, 8.
Der Zusammenhang von Leiden und Mitleiden kommt auch in N.s sonsti-
gem Lektüreumfeld vor. Z. B. Vogüe 1885, 341 (vgl. NK KSA 6, 50, 22-24) erin-
nert im Zusammenhang mit Dostojewskijs Raskolnikow und unter Rückgriff auf
eine Karfreitagspredigt Bossuets daran, dass der Ausdruck „compassion" Lei-
den mit und durch einen anderen meine („souffrir avec et par un autre") und
schließlich bis zum Mit-Leiden mit der ganzen Menschheit gehe.
173, 5 f. ( — der Fall vom Tode des Nazareners)] Als historischer Beleg für die
Schädlichkeit des Mitleidens wird die Möglichkeit einer „Gesammt-Einbusse
an Leben und Lebens-Energie" (173, 3 f.) in Rechnung gestellt, und zwar in
Klammern mit dem Hinweis auf den „Fall" Jesu. Dieser Hinweis fehlt in der
Vorstufe Mp XVI 4 (KSA 14, 437). Bei Jesus hat, so mag man aus der knappen
Andeutung und im Vorgriff auf den „psychologischen Typus des Erlösers" (AC
29 bis 35) folgern, das Mitleiden mit aller Kreatur (und sich selbst?) zu übermä-
ßigem Leiden, nämlich zum Kreuzestod geführt. Besonders plausibel scheint
Mitleid das oberste sittliche Motiv, bei Kant ist es gar keines, es gilt ihm für
einen blos passiven, gerührten, ohnmächtigen Zustand. Das fremde Leiden
steckt uns an. Das Mitleid ist nichts anderes als eine solche /272/ Ansteckung,
ein pathologisches, kein praktisches Gefühl. Was hilft es, wenn ich mitleide?
Was hilft es, wenn statt des Einen, den das Uebel trifft, jetzt ihrer zwei leiden?
Der Eine leidet in Wahrheit, der Andere in der Einbildung. Wozu das imaginäre
Leiden? So erscheint in den Augen Kant's das Mitleid als eine Verschwendung
der Gefühle in Betreff der moralischen Gesundheit, als ein Parasit, den man
nicht nähren muß. ,Es kann unmöglich Pflicht sein, die Uebel in der Welt zu
vermehren.' Das Mitleid ist eine solche unnöthige Vermehrung. Helfen, wo und
soviel man kann; wo man es nicht kann, sich nicht durch eingebildete Gefühle
verweichlichen und zum Handeln unfähig machen: das ist Kant's dem Mitleid
widersprechende Moral. Das Mitleid ist pathologisch, es beruht nicht auf Maxi-
men, sondern auf Affecten." (Fischer 1860, 2, 271 f. Spätere Auflagen bringen
genau die von N. benutzte Wendung: „So erscheint in den Augen Kants das
Mitleid als eine Verschwendung der Gefühle, als ein der moralischen Gesund-
heit schädlicher Parasit, den man sich hüten solle zu nähren." — Fischer 1889,
2, 192).
Die Parasitismus-Metaphorik ist Fischers Zugabe, die N. gerne aufgreift,
weil sie sich in seine Strategien der Pathologisierung einpassen lässt. Es ent-
behrt nicht der Ironie, dass N. sein Hauptargument gegen das Mitleid ausge-
rechnet von Kant bezieht, den er in AC 10 bis 11 (wiederum auf der Grundlage
von Fischers Buch) aufs schärfste als theologisch kontaminiert verurteilt.
Bezeichnenderweise lässt er in seiner Kant-Adaption gerade den Passus weg,
demzufolge man tätig helfen solle, statt mitleidig zu sein. Zu N.s Fischer-Adap-
tion im Falle Feuerbachs siehe NK KSA 6, 431, 8.
Der Zusammenhang von Leiden und Mitleiden kommt auch in N.s sonsti-
gem Lektüreumfeld vor. Z. B. Vogüe 1885, 341 (vgl. NK KSA 6, 50, 22-24) erin-
nert im Zusammenhang mit Dostojewskijs Raskolnikow und unter Rückgriff auf
eine Karfreitagspredigt Bossuets daran, dass der Ausdruck „compassion" Lei-
den mit und durch einen anderen meine („souffrir avec et par un autre") und
schließlich bis zum Mit-Leiden mit der ganzen Menschheit gehe.
173, 5 f. ( — der Fall vom Tode des Nazareners)] Als historischer Beleg für die
Schädlichkeit des Mitleidens wird die Möglichkeit einer „Gesammt-Einbusse
an Leben und Lebens-Energie" (173, 3 f.) in Rechnung gestellt, und zwar in
Klammern mit dem Hinweis auf den „Fall" Jesu. Dieser Hinweis fehlt in der
Vorstufe Mp XVI 4 (KSA 14, 437). Bei Jesus hat, so mag man aus der knappen
Andeutung und im Vorgriff auf den „psychologischen Typus des Erlösers" (AC
29 bis 35) folgern, das Mitleiden mit aller Kreatur (und sich selbst?) zu übermä-
ßigem Leiden, nämlich zum Kreuzestod geführt. Besonders plausibel scheint