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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0086
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Stellenkommentar AC 8, KSA 6, S. 174-175 63

tion von (einzelnen) „Priestern", sondern macht „den Priester" insgesamt für
die Abwertung der Welt, des Diesseitigen und Hiesigen verantwortlich. Hatten
die Aufklärer konkrete Priesterschaften, nämlich die römisch-katholische Kir-
che im Blick, läuft unter der Chiffre „Priester" bei N. eine weltverachtende
Wertungsweise schlechthin. So hat Miller 1973b, 246-254 auf die Parallelen
von Dostojewskijs „Grossinquisitor" in den Brüdern Karamasow zu N.s Bild
vom „asketischen Priester" namentlich in der Genealogie der Moral aufmerk-
sam gemacht (vgl. Benz 1956, 92-103 u. Schestow 1931). Die Funktion der anti-
priesterlichen Invektiven ist im Gefüge von N.s Antichristentum basal: „Pries-
ter" und „Theologen" gehören zu den „grossen Begriffen", mit denen N. gegen
die „grossen Begriffe in der Hand" (174, 32-175, 1) der Feinde ankommen zu
können glaubt (freilich bleiben in AC 57 die Manu-„Priester" von der Pauschal-
verurteilung wegen Lebensfeindlichkeit verschont).
Die Verwendung des Ausdrucks „Priester" für alle möglichen Weltvernei-
ner erweist sich als besonders nützlich, weil man so historische Evidenzen
suggerieren kann, die faktisch gar nicht da sind: AC erweckt in seinen histori-
schen Teilen den Anschein, als stimmten beispielsweise die „Priester" des
Judentums in ihren Handlungs- und Weltanschauungsmaximen mit den als
„Priestern" bezeichneten Weltverneinern späterer Zeit überein. So spart sich N.
den Nachweis, dass die „Priester" als Funktionäre einer bestimmten Religions-
gemeinschaft tatsächlich ,lebensfeindlich' gesinnt waren: Allein die Etikette
„Priester" scheint dies schon zu verbürgen. AC verfährt mit „grossen Begriffen"
demnach nicht zurückhaltender als seine „Priester".
Das Thema der priesterlichen Usurpation in geschichtlicher Frühzeit, das
N. in GM ausgiebig behandelt, ist z. B. unter dem Stichwort „Die Priester-
kämpfe der Urzeit unter den begabtesten Culturvölkern" bei Caspari 1877, 2,
178-205 ein bestimmendes Thema: „Der Beginn der Geschichte des Zauber-
und Priesterthums zeigt uns also einen Kampf." (Ebd., 2, 289) War dieser
Kampf zur sittlichen Hebung der Menschheit nach Caspari zunächst gerechtfer-
tigt, so hätten die Priester mehr und mehr von unziemlichen Ansprüchen nach
weltlicher Herrschaft sich leiten lassen. Damit sei dieser Kampf „ein ungerech-
ter und verwerflicher Kampf; denn es machten sich unter seinem Einflüsse
anmaßende Priestergelüste nach Alleinherrschaft und Despotismus geltend"
(Ebd., 2, 191). Auch der Idealismus wird bei Caspari mit den Priestern assozi-
iert: „War die Basis der frühesten kindlichsten Weltbetrachtungsart [...] ein
naiver Materialismus gewesen, so führte das von neuen Erfindungen, neuen
Beobachtungen und höhern Naturkenntnissen geleitete erste Priesterthum zum
ersten male [sic] einen primitiven Idealismus ein, der sich auf der Grundlage
ihrer Heil- und Seelenanschauung /190/ aufbaute." (Ebd., 189 f.).
175, 9-12 So lange der Priester noch als eine höhere Art Mensch gilt, dieser
Verneiner, Verleumder, Vergifter des Lebens von Beruf, giebt es keine Antwort
 
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