Stellenkommentar AC 10, KSA 6, S. 176-177 71
rigiert aus: „Kant war der größte Hemmschuh der intellektuellen Recht-
schaffenheit". In W II 7, 15 hieß es stattdessen: „Unsere ganze Cultur
stinkt nach Theologie..." (KSA 14, 438). Vgl. NK KSA 6, 360, 7 f.
177, 4 Leibnitz] In N.s Spätwerk taucht Leibniz als Platzhalter für die metaphy-
sische Tradition der deutschen Philosophie auf; eine vertiefende Lektüre lässt
sich nicht feststellen. Das Zitat aus der Theodizee in NL 1886-1887, KSA 12,
7[4], 264, 7-9 und damit den Beleg für die theologische Kontamination von
Leibniz' Denken — ,„Man muß mit mir ab effectu urtheilen: weil Gott diese
Welt, so wie sie ist, gewählt hat, darum ist sie die beste"' — hat N.
keineswegs aus eigener Quellenlektüre geschöpft, sondern aus dem Leibniz-
Band von Kuno Fischers Geschichte der neuern Philosophie exzerpiert (Fischer
1867, 688).
177, 5 Rechtschaffenheit] Die Tugend der Rechtschaffenheit verneint bei N.
Hinter- und Nebenwelten, konzentriert sich auf das Nahe- und Nächstliegende.
Sie bescheidet sich nicht mit einem theologisch inspirierten Skeptizismus, der
Höheres für möglich, ja für wahrscheinlich hält, sondern wählt einen antiidea-
listischen Heroismus, der die Existenz aller metaphysischen oder moralischen
Ersatzwelten als Betrug diskreditiert.
„Rechtschaffenheit" ähnelt stark der „Redlichkeit" in M 456, KSA 3, 275,
25-27, die eine „der jüngsten Tugenden [sei], noch wenig gereift, noch oft ver-
wechselt und verkannt, ihrer selber noch kaum bewusst". Sie steht dort im
Gegensatz zu antiken und christlichen Glücksverheißungen, denen eine letzte
Wahrhaftigkeit abgehe, denn wenn die antiken oder christlichen Menschen
„sich selbstlos fühlen, scheint es ihnen erlaubt, es mit der Wahrheit leich-
ter zu nehmen" (ebd., 275, 21-23). In GM konturiert sich das Bild der Red-
lichkeit weiter. Nun verfällt der „Wille zur Wahrheit" selbst der Kritik: „bestim-
men wir hiermit unsre eigene Aufgabe —, der Werth der Wahrheit ist
versuchsweise einmal in Frage zu stellen..." (GM III 24, KSA 5, 401, 23-
25). Die Redlichkeit ist hier Stimulans, Medium und zugleich Zweck einer Expe-
rimentalphilosophie, die mit ihrem eindringlichen Fragen und Hinterfragen
nicht einmal vor ihren eigenen Möglichkeitsbedingungen halt macht (vgl. Ger-
hardt 1986 u. Kaulbach 1980, kritisch dazu Maurer 1982, 502-504). Einerseits
erscheint Redlichkeit damit als ein letzter Wert nach der Suspendierung aller
Werte und Moralen, andererseits könnte — so Jaspers 1947, 204 f. — eine
„Selbstbegrenzung der Redlichkeit" bei N. da vorliegen, wo sie Lebensinteres-
sen gefährdet (vgl. auch Grau 1958).
„Die Redlichkeit ist Redlichkeit vor der Unhaltbarkeit der Wahrheit."
(Nancy 1986, 179) Davon hat sich der Rechtschaffenheitsappell in AC 10 wieder
entfernt. In AC kommt nirgends ein Ausdruck aus dem Wortfeld „redlich" auch
rigiert aus: „Kant war der größte Hemmschuh der intellektuellen Recht-
schaffenheit". In W II 7, 15 hieß es stattdessen: „Unsere ganze Cultur
stinkt nach Theologie..." (KSA 14, 438). Vgl. NK KSA 6, 360, 7 f.
177, 4 Leibnitz] In N.s Spätwerk taucht Leibniz als Platzhalter für die metaphy-
sische Tradition der deutschen Philosophie auf; eine vertiefende Lektüre lässt
sich nicht feststellen. Das Zitat aus der Theodizee in NL 1886-1887, KSA 12,
7[4], 264, 7-9 und damit den Beleg für die theologische Kontamination von
Leibniz' Denken — ,„Man muß mit mir ab effectu urtheilen: weil Gott diese
Welt, so wie sie ist, gewählt hat, darum ist sie die beste"' — hat N.
keineswegs aus eigener Quellenlektüre geschöpft, sondern aus dem Leibniz-
Band von Kuno Fischers Geschichte der neuern Philosophie exzerpiert (Fischer
1867, 688).
177, 5 Rechtschaffenheit] Die Tugend der Rechtschaffenheit verneint bei N.
Hinter- und Nebenwelten, konzentriert sich auf das Nahe- und Nächstliegende.
Sie bescheidet sich nicht mit einem theologisch inspirierten Skeptizismus, der
Höheres für möglich, ja für wahrscheinlich hält, sondern wählt einen antiidea-
listischen Heroismus, der die Existenz aller metaphysischen oder moralischen
Ersatzwelten als Betrug diskreditiert.
„Rechtschaffenheit" ähnelt stark der „Redlichkeit" in M 456, KSA 3, 275,
25-27, die eine „der jüngsten Tugenden [sei], noch wenig gereift, noch oft ver-
wechselt und verkannt, ihrer selber noch kaum bewusst". Sie steht dort im
Gegensatz zu antiken und christlichen Glücksverheißungen, denen eine letzte
Wahrhaftigkeit abgehe, denn wenn die antiken oder christlichen Menschen
„sich selbstlos fühlen, scheint es ihnen erlaubt, es mit der Wahrheit leich-
ter zu nehmen" (ebd., 275, 21-23). In GM konturiert sich das Bild der Red-
lichkeit weiter. Nun verfällt der „Wille zur Wahrheit" selbst der Kritik: „bestim-
men wir hiermit unsre eigene Aufgabe —, der Werth der Wahrheit ist
versuchsweise einmal in Frage zu stellen..." (GM III 24, KSA 5, 401, 23-
25). Die Redlichkeit ist hier Stimulans, Medium und zugleich Zweck einer Expe-
rimentalphilosophie, die mit ihrem eindringlichen Fragen und Hinterfragen
nicht einmal vor ihren eigenen Möglichkeitsbedingungen halt macht (vgl. Ger-
hardt 1986 u. Kaulbach 1980, kritisch dazu Maurer 1982, 502-504). Einerseits
erscheint Redlichkeit damit als ein letzter Wert nach der Suspendierung aller
Werte und Moralen, andererseits könnte — so Jaspers 1947, 204 f. — eine
„Selbstbegrenzung der Redlichkeit" bei N. da vorliegen, wo sie Lebensinteres-
sen gefährdet (vgl. auch Grau 1958).
„Die Redlichkeit ist Redlichkeit vor der Unhaltbarkeit der Wahrheit."
(Nancy 1986, 179) Davon hat sich der Rechtschaffenheitsappell in AC 10 wieder
entfernt. In AC kommt nirgends ein Ausdruck aus dem Wortfeld „redlich" auch