Stellenkommentar AC 11, KSA 6, S. 177 73
tragung eines gesellschaftlich-geistigen Sachverhalts in ein geographisches
Bild erläutern lässt: Das „Reich der Mitte", wie China sich selber sah, wird
nun zu einem Reich der Mittelmäßigkeit, der „Vermittelmässigung", das sich
von der Welt — von der Physis, von den sinnlichen Antrieben — ebenso meint
isolieren zu können wie es das Chinesische Reich bis zum Opiumkrieg zu tun
vermochte.
Eine Inspirationsquelle für N.s Kritik an der Chineserei dürfte Mill 1869-
1880, 1, 75 gewesen sein, siehe NK KSA 6, 142, 29. Kant haftet schon in JGB 210,
KSA 5, 144, 6 f. der entsprechende Geruch an: „Auch der grosse Chinese von
Königsberg war nur ein grosser Kritiker." Gegen das bei Mill (und später N.)
vorherrschende Stillstands- und Niedergangsszenario versucht Friedrich von
Hellwald in seiner von N. studierten Culturgeschichte in ihrer natürlichen Ent-
wicklung zu zeigen, dass die im Westen allgemein angenommene „Erstarrung
der chinesischen Cultur" nur eine „angebliche" sei und China keineswegs, wie
das landläufige Vorurteil wolle, „eine erstarrte Säule, ein Volk [sei], dessen
Cultur sich seit Jahrtausenden nicht von der Stelle bewegt" (Hellwald 1876, 1,
149).
177, 15 der Niedergang, die letzte Entkräftung des Lebens] In Lichtenberg 1867,
1, 100 hat N. die folgende Stelle markiert (vgl. Stingelin 1996, 180): „Sollte
nicht manches von dem was Hr. Kant lehrt, zumal in Rücksicht auf das Sitten-
gesetz, Folge des Alters sein, wo Leidenschaften und Meinungen ihre Kraft
verloren haben, und Vernunft allein übrig bleibt?"
177, 19-21 Ein Volk geht zu Grunde, wenn es seine Pflicht mit dem Pflichtbe-
griff überhaupt verwechselt. Nichts ruinirt tiefer, innerlicher als jede „unpersönli-
che" Pflicht] In Guyaus Esquisse d'une morale sans obligation ni sanction hatte
sich N. folgende Stelle mit einem „NB." markiert (Lampl 1990, 15): „Mainte-
nant, les esprits les plus eleves parmi nous adorent le devoir; ce dernier culte,
cette derniere superstition ne s'en ira-t-elle pas comme les autres?" (Guyau
1885, 125. „Nun beten die höchsten Geister unter uns die Pflicht an; dieser
letzte Kultus, dieser letzte Aberglaube, wird er nicht wie alle anderen ver-
schwinden?").
177, 21 f. jede Opferung vor dem Moloch der Abstraktion] „Moloch" kommt in
N.s Werken nur hier vor. „Moloch (,König'), Gottheit der Kanaaniter, ursprüng-
lich die sengende Glut der Sonne im Hochsommer [...], dann der finstere Gott
des harten, vernichtenden Kriegs [...]. Er wurde in Stiergestalt oder mit dem
Stierkopf (Minotauros) dargestellt. Ihm wurden zum Dank für den von ihm
verliehenen Sieg nicht nur gefangene Feinde in Menge geopfert, sondern auch,
um seine Gunst zu gewinnen oder seinen Zorn zu beschwichtigen, Menschen-
tragung eines gesellschaftlich-geistigen Sachverhalts in ein geographisches
Bild erläutern lässt: Das „Reich der Mitte", wie China sich selber sah, wird
nun zu einem Reich der Mittelmäßigkeit, der „Vermittelmässigung", das sich
von der Welt — von der Physis, von den sinnlichen Antrieben — ebenso meint
isolieren zu können wie es das Chinesische Reich bis zum Opiumkrieg zu tun
vermochte.
Eine Inspirationsquelle für N.s Kritik an der Chineserei dürfte Mill 1869-
1880, 1, 75 gewesen sein, siehe NK KSA 6, 142, 29. Kant haftet schon in JGB 210,
KSA 5, 144, 6 f. der entsprechende Geruch an: „Auch der grosse Chinese von
Königsberg war nur ein grosser Kritiker." Gegen das bei Mill (und später N.)
vorherrschende Stillstands- und Niedergangsszenario versucht Friedrich von
Hellwald in seiner von N. studierten Culturgeschichte in ihrer natürlichen Ent-
wicklung zu zeigen, dass die im Westen allgemein angenommene „Erstarrung
der chinesischen Cultur" nur eine „angebliche" sei und China keineswegs, wie
das landläufige Vorurteil wolle, „eine erstarrte Säule, ein Volk [sei], dessen
Cultur sich seit Jahrtausenden nicht von der Stelle bewegt" (Hellwald 1876, 1,
149).
177, 15 der Niedergang, die letzte Entkräftung des Lebens] In Lichtenberg 1867,
1, 100 hat N. die folgende Stelle markiert (vgl. Stingelin 1996, 180): „Sollte
nicht manches von dem was Hr. Kant lehrt, zumal in Rücksicht auf das Sitten-
gesetz, Folge des Alters sein, wo Leidenschaften und Meinungen ihre Kraft
verloren haben, und Vernunft allein übrig bleibt?"
177, 19-21 Ein Volk geht zu Grunde, wenn es seine Pflicht mit dem Pflichtbe-
griff überhaupt verwechselt. Nichts ruinirt tiefer, innerlicher als jede „unpersönli-
che" Pflicht] In Guyaus Esquisse d'une morale sans obligation ni sanction hatte
sich N. folgende Stelle mit einem „NB." markiert (Lampl 1990, 15): „Mainte-
nant, les esprits les plus eleves parmi nous adorent le devoir; ce dernier culte,
cette derniere superstition ne s'en ira-t-elle pas comme les autres?" (Guyau
1885, 125. „Nun beten die höchsten Geister unter uns die Pflicht an; dieser
letzte Kultus, dieser letzte Aberglaube, wird er nicht wie alle anderen ver-
schwinden?").
177, 21 f. jede Opferung vor dem Moloch der Abstraktion] „Moloch" kommt in
N.s Werken nur hier vor. „Moloch (,König'), Gottheit der Kanaaniter, ursprüng-
lich die sengende Glut der Sonne im Hochsommer [...], dann der finstere Gott
des harten, vernichtenden Kriegs [...]. Er wurde in Stiergestalt oder mit dem
Stierkopf (Minotauros) dargestellt. Ihm wurden zum Dank für den von ihm
verliehenen Sieg nicht nur gefangene Feinde in Menge geopfert, sondern auch,
um seine Gunst zu gewinnen oder seinen Zorn zu beschwichtigen, Menschen-