Stellenkommentar AC 11, KSA 6, S. 177 75
heit um jeden Preis wollen, auch wenn diese Wahrheit dem Lebenswillen
abträglich ist, wenn sie Unlust und Lebensüberdruss statt Lust und Willen zur
Macht fördert? Ist mögliche größere Lust nicht Motivation zu einer Steigerung
des Machtwillens oder mindestens ein unabdingbarer Effekt solcher Steige-
rung?
Die Kontradiktion zwischen AC 11 und AC 50 belegt, wie stark N. in AC
situativ argumentiert. Zum einen zeigt sich daran, dass er den antichristlichen
Standpunkt jeweils als das Andere des Christentums näher bestimmt, während
dessen sonstige Attribute austausch-, ja umkehrbar sind: Manchmal ist das
Antichristentum lebensfreundlich und wahrheitsfeindlich, ein andermal das
Gegenteil; manchmal elitär und hermetisch, ein andermal die neue frohe Bot-
schaft für alle (vgl. NK KSA 6, 366, 5 f.). Zum anderen hat auch das angegriffene
Christentum keine stabile Identität; mitunter ist es lustfeindlich, mitunter lust-
freundlich, und beides wird rücksichtslos ausgebeutet.
177, 31 Idiotismus] „Idiotismus" ist im 19. Jahrhundert als Synonym für Idiotie
ein medizinischer Fachbegriff, der laut Konversationslexikon freilich gerade
nicht auf eine Altersdemenz wie diejenige Kants anzuwenden wäre: „Idiotie
(Idiotismus, griech.), in der Medizin derjenige Zustand der geistigen Abschwä-
chung und des Blödsinns, welcher entweder (meist) angeboren, oder in früh-
ster Kindheit erworben ist." (Meyer 1885-1892, 8, 876) Über Idiotismus im
medizinischen Sinn hatte sich N. etwa in Feres Degenerescence et criminalite
kundig machen können: „Au bas de l'echelle des degeneres on trouve l'idiot,
qui avec une decheance psychique plus profonde presente des caracteres
somatiques aussi plus nets, dignes d'etre mis en parallele avec les caracteres
somatiques des plus inferieurs des criminels, ceux qui ont ete condamnes ä
mort pour l'atrocite des leurs forfaits et qui peuvent etre consideres comme
des idiots moraux" (Fere 1888, 86. „Am Fuß der Leiter der Degenerierten findet
man den Idioten, der mit tiefstem psychischen Verfall auch die deutlich-
sten somatischen Charakteristika zeigt, würdig in Parallele gesetzt zu werden
mit den niedrigsten somatischen Charakteristika der Kriminellen, jener, die
zum Tode verurteilt wurden für die Grausamkeit ihrer Untaten, und die man
als moralische Idioten ansehen kann").
177, 31 f. Kant wurde Idiot. — Und das war der Zeitgenosse Goethes!] Vgl. NK
KSA 6, 151, 17-19. In Kuno Fischers Geschichte der neuern Philosophie lautet die
Schilderung von Kants Siechtum wie folgt: „Von einem heftigen Anfall im Octo-
ber 1803 erholte er sich noch einmal für wenige Monate. Die Kräfte versiegten
jetzt von Tag zu Tag. Er vermochte nicht mehr seinen Namen zu schreiben, die
Buchstaben sah er nicht, die geschriebenen vergaß er in demselben Augenbli-
cke, die Bilder waren seiner Vorstellung entfallen, selbst die gewöhnlichsten
heit um jeden Preis wollen, auch wenn diese Wahrheit dem Lebenswillen
abträglich ist, wenn sie Unlust und Lebensüberdruss statt Lust und Willen zur
Macht fördert? Ist mögliche größere Lust nicht Motivation zu einer Steigerung
des Machtwillens oder mindestens ein unabdingbarer Effekt solcher Steige-
rung?
Die Kontradiktion zwischen AC 11 und AC 50 belegt, wie stark N. in AC
situativ argumentiert. Zum einen zeigt sich daran, dass er den antichristlichen
Standpunkt jeweils als das Andere des Christentums näher bestimmt, während
dessen sonstige Attribute austausch-, ja umkehrbar sind: Manchmal ist das
Antichristentum lebensfreundlich und wahrheitsfeindlich, ein andermal das
Gegenteil; manchmal elitär und hermetisch, ein andermal die neue frohe Bot-
schaft für alle (vgl. NK KSA 6, 366, 5 f.). Zum anderen hat auch das angegriffene
Christentum keine stabile Identität; mitunter ist es lustfeindlich, mitunter lust-
freundlich, und beides wird rücksichtslos ausgebeutet.
177, 31 Idiotismus] „Idiotismus" ist im 19. Jahrhundert als Synonym für Idiotie
ein medizinischer Fachbegriff, der laut Konversationslexikon freilich gerade
nicht auf eine Altersdemenz wie diejenige Kants anzuwenden wäre: „Idiotie
(Idiotismus, griech.), in der Medizin derjenige Zustand der geistigen Abschwä-
chung und des Blödsinns, welcher entweder (meist) angeboren, oder in früh-
ster Kindheit erworben ist." (Meyer 1885-1892, 8, 876) Über Idiotismus im
medizinischen Sinn hatte sich N. etwa in Feres Degenerescence et criminalite
kundig machen können: „Au bas de l'echelle des degeneres on trouve l'idiot,
qui avec une decheance psychique plus profonde presente des caracteres
somatiques aussi plus nets, dignes d'etre mis en parallele avec les caracteres
somatiques des plus inferieurs des criminels, ceux qui ont ete condamnes ä
mort pour l'atrocite des leurs forfaits et qui peuvent etre consideres comme
des idiots moraux" (Fere 1888, 86. „Am Fuß der Leiter der Degenerierten findet
man den Idioten, der mit tiefstem psychischen Verfall auch die deutlich-
sten somatischen Charakteristika zeigt, würdig in Parallele gesetzt zu werden
mit den niedrigsten somatischen Charakteristika der Kriminellen, jener, die
zum Tode verurteilt wurden für die Grausamkeit ihrer Untaten, und die man
als moralische Idioten ansehen kann").
177, 31 f. Kant wurde Idiot. — Und das war der Zeitgenosse Goethes!] Vgl. NK
KSA 6, 151, 17-19. In Kuno Fischers Geschichte der neuern Philosophie lautet die
Schilderung von Kants Siechtum wie folgt: „Von einem heftigen Anfall im Octo-
ber 1803 erholte er sich noch einmal für wenige Monate. Die Kräfte versiegten
jetzt von Tag zu Tag. Er vermochte nicht mehr seinen Namen zu schreiben, die
Buchstaben sah er nicht, die geschriebenen vergaß er in demselben Augenbli-
cke, die Bilder waren seiner Vorstellung entfallen, selbst die gewöhnlichsten