80 Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum
Übung und gleichsam Vorform des wissenschaftlichen Charakters: vor allem
jene Gesinnung, welche Probleme ernst nimmt, noch abgesehen davon, was
persönlich dabei herauskommt. Zuletzt dürfte man erwägen, ob es eigentlich
nicht ein ästhetisches Bedürfniß war, was die Menschheit in so langer Blind-
heit gehalten hat: sie verlangte von der Wahrheit einen pittoresken Effekt,
sie verlangte insgleichen vom Erkennenden, daß er stark auf die Phantasie
wirke. Unsere Bescheidenheit gieng am längsten ihr wider den Ge-
schmack." (KSA 14, 438 f.).
In W II 6, 66 gibt es eine frühere Fassung, aus der N.s Nachlassverwalter
WzM2 469 (GoA 16, 3 f.) komponiert haben: „Die werthvollsten Einsichten wer-
den am spätesten gefunden: aber die werthvollsten Einsichten sind die
Methoden. Alle Methoden, alle Voraussetzungen unsrer jetzigen Wissen-
schaft haben Jahrtausende lang die tiefste Verachtung gegen sich gehabt: auf
sie hin ist man aus dem Verkehr mit honnetten Menschen ausgeschlossen
worden, — man galt als ,Feind Gottes', als Verächter des höchsten Ideals,
als ,Besessener'. Wir haben das ganze Pathos der Menschheit gegen uns
gehabt — ihren [WzM2 469 irrtümlich: „unser"] Begriff von dem, was die ,Wahr-
heit' sein soll, was der Dienst der Wahrheit sein soll. — Unsre Objektivität,
unsere Methode, unsere stille, vorsichtige, mißtrauische Art war vollkommen
verächtlich... rIm Grunde war es ein aesthetisches Vorurtheil [WzM2 469:
„Geschmack" nach AC 13], was die Menschheit am längsten gehindert hat: sie
glaubte an den pittoresken Effekt der Wahrheit, sie verlangte vom Erkennen-
den, daß er stark auf die Phantasie wirke' Das sieht aus, als ob ein Gegen-
satz, ein Sprung gemacht worden sei: in Wahrheit hat jene Schulung durch
die Moral-Ideal-Hyperbeln Schritt für Schritt jenes Pathos milderer Art
vorbereitet, das sich jetzt wissenschaftlich bethätigt als wissenschaftlicher
Charakter leibhaft wurde... Die Gewissenhaftigkeit im Kleinen, die
Se(l)bstcontrole des religiösen Menschen war eine Vorschule zum wissen-
schaftlichen Instinkt Charakter: vor allem die Gesinnung, welche Probleme
ernst nimmt, noch abgesehen davon, was persönlich dabei für Einen
herauskommt..." (KSA 14, 439) Zum Vergleich der beiden Vorstufen mit AC 13
siehe Sommer 2000a, 160-162.
179, 8 f. wir selbst, wir freien Geister, sind bereits eine „Umwerthung aller
Werthe"] Passagen wie diese, die die „Umwerthung aller Werthe" nicht als
literarisches Werk, sondern in Gestalt realer Personen vor Augen stellen, kön-
nen zu erklären helfen, weshalb N. schließlich darauf verzichtete, eine Umwer-
thung aller Werthe in vier Büchern zu schreiben, sondern in AC dieses Werk
bereits vollendet fand. In EH stellt N. sich als sich selbst vollziehende, die
decadence überwindende Umwertung dar.
Übung und gleichsam Vorform des wissenschaftlichen Charakters: vor allem
jene Gesinnung, welche Probleme ernst nimmt, noch abgesehen davon, was
persönlich dabei herauskommt. Zuletzt dürfte man erwägen, ob es eigentlich
nicht ein ästhetisches Bedürfniß war, was die Menschheit in so langer Blind-
heit gehalten hat: sie verlangte von der Wahrheit einen pittoresken Effekt,
sie verlangte insgleichen vom Erkennenden, daß er stark auf die Phantasie
wirke. Unsere Bescheidenheit gieng am längsten ihr wider den Ge-
schmack." (KSA 14, 438 f.).
In W II 6, 66 gibt es eine frühere Fassung, aus der N.s Nachlassverwalter
WzM2 469 (GoA 16, 3 f.) komponiert haben: „Die werthvollsten Einsichten wer-
den am spätesten gefunden: aber die werthvollsten Einsichten sind die
Methoden. Alle Methoden, alle Voraussetzungen unsrer jetzigen Wissen-
schaft haben Jahrtausende lang die tiefste Verachtung gegen sich gehabt: auf
sie hin ist man aus dem Verkehr mit honnetten Menschen ausgeschlossen
worden, — man galt als ,Feind Gottes', als Verächter des höchsten Ideals,
als ,Besessener'. Wir haben das ganze Pathos der Menschheit gegen uns
gehabt — ihren [WzM2 469 irrtümlich: „unser"] Begriff von dem, was die ,Wahr-
heit' sein soll, was der Dienst der Wahrheit sein soll. — Unsre Objektivität,
unsere Methode, unsere stille, vorsichtige, mißtrauische Art war vollkommen
verächtlich... rIm Grunde war es ein aesthetisches Vorurtheil [WzM2 469:
„Geschmack" nach AC 13], was die Menschheit am längsten gehindert hat: sie
glaubte an den pittoresken Effekt der Wahrheit, sie verlangte vom Erkennen-
den, daß er stark auf die Phantasie wirke' Das sieht aus, als ob ein Gegen-
satz, ein Sprung gemacht worden sei: in Wahrheit hat jene Schulung durch
die Moral-Ideal-Hyperbeln Schritt für Schritt jenes Pathos milderer Art
vorbereitet, das sich jetzt wissenschaftlich bethätigt als wissenschaftlicher
Charakter leibhaft wurde... Die Gewissenhaftigkeit im Kleinen, die
Se(l)bstcontrole des religiösen Menschen war eine Vorschule zum wissen-
schaftlichen Instinkt Charakter: vor allem die Gesinnung, welche Probleme
ernst nimmt, noch abgesehen davon, was persönlich dabei für Einen
herauskommt..." (KSA 14, 439) Zum Vergleich der beiden Vorstufen mit AC 13
siehe Sommer 2000a, 160-162.
179, 8 f. wir selbst, wir freien Geister, sind bereits eine „Umwerthung aller
Werthe"] Passagen wie diese, die die „Umwerthung aller Werthe" nicht als
literarisches Werk, sondern in Gestalt realer Personen vor Augen stellen, kön-
nen zu erklären helfen, weshalb N. schließlich darauf verzichtete, eine Umwer-
thung aller Werthe in vier Büchern zu schreiben, sondern in AC dieses Werk
bereits vollendet fand. In EH stellt N. sich als sich selbst vollziehende, die
decadence überwindende Umwertung dar.