94 Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum
einer „Ursache", die offenbar nicht imaginär sein soll. Aber auf welchen
unausgewiesenen Voraussetzungen beruht diese Ursachenbehauptung? Wel-
che Vorentscheidungen — der Glaube an das Vorhandensein einer guten, das
heißt grundsätzlich lustbringenden Welt und einer grundsätzlich guten, das
heißt zum Lustgewinn fähigen menschlichen Natur? — müssen getroffen sein,
damit der Fiktionalismusvorwurf gegen das Christentum sticht? Wenn der
Mensch „das missrathenste Thier" (AC 14, KSA 6, 180, 12 f.) ist, woher rührt
dann der Optimismus hinsichtlich einer dem Menschen prädizierten Potenz,
die Lust- über die Unlustgefühle dominieren zu lassen? Oder ist der Mensch
gerade deswegen missraten, weil ihm dies nicht gelingt, aber doch eigentlich
gelingen müsste, weil die Welt so großartig beschaffen ist? Weshalb soll das
Übergewicht des Negativen nicht eine Erfahrung sein, die wirklichkeitsgemäß
ist?
Die in AC 15 suggerierte, antichristliche Anthropologie erbringt den Beweis
dafür nicht, dass sie wirklichkeitsnäher und illusionsloser als die christliche
sei. Ist „Lust", fragt später AC 50, denn ein „Beweis der Wahrheit" (KSA 6,
229, 32)? „So wenig, dass es beinahe den Gegenbeweis, jedenfalls den höchsten
Argwohn gegen ,Wahrheit' abgiebt, wenn Lustempfindungen über die Frage
,was ist wahr' mitreden." (Ebd., 230, 1-3) Demzufolge ist die Behauptung zu
beargwöhnen, „an der Wirklichkeit leiden heisst eine verunglückte Wirk-
lichkeit sein" (182, 4 f.). In GT 17, KSA 1, 109, 2-4 hatte N. schon argumentiert,
„die dionysische Kunst" wolle „uns von der ewigen Lust des Daseins überzeu-
gen: nur sollen wir diese Lust nicht in den Erscheinungen, sondern hinter den
Erscheinungen suchen".
16-19
182, 9-185, 29 Die Abschnitte 16 bis 19 verwerten die ersten vier Teile einer
fünfteiligen Kurzabhandlung „Zur Geschichte des Gottesbegriffs" in Heft W II
8, die in NL 1888, KSA 13, 17[4], 523-526 abgedruckt ist. Den fünften und letz-
ten Abschnitt von 17[4] benutzt N. in AC nicht (später erscheint er dann dekon-
textualisiert als WzM2 1038). Schellong 1989, 351 bemerkt, dass dieser
Abschnitt „zu sehr nur experimentellen Charakter" gehabt habe, um in AC
Aufnahme zu finden (zur Interpretation Sommer 2000a, 202 f.). Die Destruktion
des jüdisch-christlichen Gottes fußt auf dem Nachweis seiner historischen Kon-
tingenz, vgl. M 95, KSA 3, 86. Die Kritik des Gottesbegriffes in AC 16 bis 19
gibt „dem abendländischen Garanten der Unveränderlichkeit der Moral, dem
monotheistischen Gott, seine Entstehungsgeschichte" (Schmidt-Biggemann
einer „Ursache", die offenbar nicht imaginär sein soll. Aber auf welchen
unausgewiesenen Voraussetzungen beruht diese Ursachenbehauptung? Wel-
che Vorentscheidungen — der Glaube an das Vorhandensein einer guten, das
heißt grundsätzlich lustbringenden Welt und einer grundsätzlich guten, das
heißt zum Lustgewinn fähigen menschlichen Natur? — müssen getroffen sein,
damit der Fiktionalismusvorwurf gegen das Christentum sticht? Wenn der
Mensch „das missrathenste Thier" (AC 14, KSA 6, 180, 12 f.) ist, woher rührt
dann der Optimismus hinsichtlich einer dem Menschen prädizierten Potenz,
die Lust- über die Unlustgefühle dominieren zu lassen? Oder ist der Mensch
gerade deswegen missraten, weil ihm dies nicht gelingt, aber doch eigentlich
gelingen müsste, weil die Welt so großartig beschaffen ist? Weshalb soll das
Übergewicht des Negativen nicht eine Erfahrung sein, die wirklichkeitsgemäß
ist?
Die in AC 15 suggerierte, antichristliche Anthropologie erbringt den Beweis
dafür nicht, dass sie wirklichkeitsnäher und illusionsloser als die christliche
sei. Ist „Lust", fragt später AC 50, denn ein „Beweis der Wahrheit" (KSA 6,
229, 32)? „So wenig, dass es beinahe den Gegenbeweis, jedenfalls den höchsten
Argwohn gegen ,Wahrheit' abgiebt, wenn Lustempfindungen über die Frage
,was ist wahr' mitreden." (Ebd., 230, 1-3) Demzufolge ist die Behauptung zu
beargwöhnen, „an der Wirklichkeit leiden heisst eine verunglückte Wirk-
lichkeit sein" (182, 4 f.). In GT 17, KSA 1, 109, 2-4 hatte N. schon argumentiert,
„die dionysische Kunst" wolle „uns von der ewigen Lust des Daseins überzeu-
gen: nur sollen wir diese Lust nicht in den Erscheinungen, sondern hinter den
Erscheinungen suchen".
16-19
182, 9-185, 29 Die Abschnitte 16 bis 19 verwerten die ersten vier Teile einer
fünfteiligen Kurzabhandlung „Zur Geschichte des Gottesbegriffs" in Heft W II
8, die in NL 1888, KSA 13, 17[4], 523-526 abgedruckt ist. Den fünften und letz-
ten Abschnitt von 17[4] benutzt N. in AC nicht (später erscheint er dann dekon-
textualisiert als WzM2 1038). Schellong 1989, 351 bemerkt, dass dieser
Abschnitt „zu sehr nur experimentellen Charakter" gehabt habe, um in AC
Aufnahme zu finden (zur Interpretation Sommer 2000a, 202 f.). Die Destruktion
des jüdisch-christlichen Gottes fußt auf dem Nachweis seiner historischen Kon-
tingenz, vgl. M 95, KSA 3, 86. Die Kritik des Gottesbegriffes in AC 16 bis 19
gibt „dem abendländischen Garanten der Unveränderlichkeit der Moral, dem
monotheistischen Gott, seine Entstehungsgeschichte" (Schmidt-Biggemann