116 Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum
haupt jener Theorie von der Gleichberechtigung Aller keineswegs vollkommen
entsprochen hat; wenn auch die brahmanische Exclusivität nicht geradezu auf-
recht erhalten wurde, scheint doch eine entschiedene Hinneigung zur Aristo-
kratie als Erbteil der Vergangenheit dem älteren Buddhismus geblieben zu
sein." Diese soziale Situierung des Buddhismus kontrastiert schroff mit dem
Christentum als einer Bewegung, in der N. zufolge „die Instinkte Unterworfner
und Unterdrückter in den Vordergrund" (188, 3 f.) rücken. Gerade weil seine
Anhänger sich (angeblich) aus oberen Schichten rekrutieren, hat der Buddhis-
mus nach N.s Diagnose zu dem werden können, was er ist, nämlich eine Inter-
pretation der Welt als Leiden ohne Weltverteufelung und ohne Ressentiment.
187, 31-188, 2 Man will die Heiterkeit, die Stille, die Wunschlosigkeit als höchs-
tes Ziel, und man erreicht sein Ziel. Der Buddhismus ist keine Religion, in der
man bloss auf Vollkommenheit aspirirt: das Vollkommne ist der normale Fall.]
Die buddhistische „Vollkommenheit" wird hier nicht wie in früheren Texten
mit dem Erlöschen im Nichts, in einem als Nichts begriffenen Nirvana gleichge-
setzt (vgl. z. B. FW Vorrede 3, KSA 3, 350, 19-22 und GM I 6, KSA 5, 266, 2-4).
AC 7 sprach bei der Analyse des Mitleidens davon, dass dieses zum Nichts
überrede, man dazu aber nicht „Nichts" sage, sondern „Jenseits"', ,„Gott‘",
„,das wahre Leben'", oder „Nirvana, Erlösung, Seligkeit" (KSA 6, 173, 30-32).
Die buddhistische „Vollkommenheit" fasst AC 21 nicht länger als Auflösung,
als Aufhören des Individuiert-Seins auf — das Wort „Nirvana" kommt nicht
vor —, sondern als innerweltlichen Zustand der Leidensfreiheit. N. bezieht sich
hier implizit auf die Diskussionen bei Müller und Oldenberg, wie das (hinduis-
tische oder buddhistische) Nirvana beschaffen sei: ob mit dem Nichts identisch
(vgl. Müller 1869, 202-204 u. 242-252; ferner auch [Salome] 1885, 201 = Salome
2007, 171) oder ob als Leben nach dem Tode. Oldenberg 1881, 271 nimmt N.s
Folgerung vorweg: „Will man also den Punkt genau bezeichnen, wo für den
Buddhisten das Ziel erreicht ist, so hat man nicht auf das Eingehen des ster-
benden Vollendeten in das Reich des Ewigen — sei dies nun das ewige Sein
oder das ewige Nichts — hinzublicken, sondern auf den Augenblick eines
irdischen Lebens, wo er den Stand der Sündlosigkeit und Leidlosigkeit erlangt
hat; dies ist das wahre Nirvana." Entsprechend agnostisch habe sich Buddha
in metaphysischen Fragen verhalten: „Weshalb hat Buddha seine Jünger nicht
gelehrt, ob die Welt endlich oder unendlich sei, ob der Heilige im Jenseits
fortlebt oder nicht? Weil das Wissen von diesen Dingen den Wandel in Heilig-
keit nicht fördert, weil es nicht zum Frieden und zur Erleuchtung dient." (Ebd.,
282).
Die von Buddha gelehrte Praxis legt das Schwergewicht nicht auf jenseitige
Leidenskompensation, sondern auf diesseitige Leidensvermeidung. Nach der
Versuchsanlage von AC 21 stellt das Christentum die Erlösung ganz ins Verfü-
haupt jener Theorie von der Gleichberechtigung Aller keineswegs vollkommen
entsprochen hat; wenn auch die brahmanische Exclusivität nicht geradezu auf-
recht erhalten wurde, scheint doch eine entschiedene Hinneigung zur Aristo-
kratie als Erbteil der Vergangenheit dem älteren Buddhismus geblieben zu
sein." Diese soziale Situierung des Buddhismus kontrastiert schroff mit dem
Christentum als einer Bewegung, in der N. zufolge „die Instinkte Unterworfner
und Unterdrückter in den Vordergrund" (188, 3 f.) rücken. Gerade weil seine
Anhänger sich (angeblich) aus oberen Schichten rekrutieren, hat der Buddhis-
mus nach N.s Diagnose zu dem werden können, was er ist, nämlich eine Inter-
pretation der Welt als Leiden ohne Weltverteufelung und ohne Ressentiment.
187, 31-188, 2 Man will die Heiterkeit, die Stille, die Wunschlosigkeit als höchs-
tes Ziel, und man erreicht sein Ziel. Der Buddhismus ist keine Religion, in der
man bloss auf Vollkommenheit aspirirt: das Vollkommne ist der normale Fall.]
Die buddhistische „Vollkommenheit" wird hier nicht wie in früheren Texten
mit dem Erlöschen im Nichts, in einem als Nichts begriffenen Nirvana gleichge-
setzt (vgl. z. B. FW Vorrede 3, KSA 3, 350, 19-22 und GM I 6, KSA 5, 266, 2-4).
AC 7 sprach bei der Analyse des Mitleidens davon, dass dieses zum Nichts
überrede, man dazu aber nicht „Nichts" sage, sondern „Jenseits"', ,„Gott‘",
„,das wahre Leben'", oder „Nirvana, Erlösung, Seligkeit" (KSA 6, 173, 30-32).
Die buddhistische „Vollkommenheit" fasst AC 21 nicht länger als Auflösung,
als Aufhören des Individuiert-Seins auf — das Wort „Nirvana" kommt nicht
vor —, sondern als innerweltlichen Zustand der Leidensfreiheit. N. bezieht sich
hier implizit auf die Diskussionen bei Müller und Oldenberg, wie das (hinduis-
tische oder buddhistische) Nirvana beschaffen sei: ob mit dem Nichts identisch
(vgl. Müller 1869, 202-204 u. 242-252; ferner auch [Salome] 1885, 201 = Salome
2007, 171) oder ob als Leben nach dem Tode. Oldenberg 1881, 271 nimmt N.s
Folgerung vorweg: „Will man also den Punkt genau bezeichnen, wo für den
Buddhisten das Ziel erreicht ist, so hat man nicht auf das Eingehen des ster-
benden Vollendeten in das Reich des Ewigen — sei dies nun das ewige Sein
oder das ewige Nichts — hinzublicken, sondern auf den Augenblick eines
irdischen Lebens, wo er den Stand der Sündlosigkeit und Leidlosigkeit erlangt
hat; dies ist das wahre Nirvana." Entsprechend agnostisch habe sich Buddha
in metaphysischen Fragen verhalten: „Weshalb hat Buddha seine Jünger nicht
gelehrt, ob die Welt endlich oder unendlich sei, ob der Heilige im Jenseits
fortlebt oder nicht? Weil das Wissen von diesen Dingen den Wandel in Heilig-
keit nicht fördert, weil es nicht zum Frieden und zur Erleuchtung dient." (Ebd.,
282).
Die von Buddha gelehrte Praxis legt das Schwergewicht nicht auf jenseitige
Leidenskompensation, sondern auf diesseitige Leidensvermeidung. Nach der
Versuchsanlage von AC 21 stellt das Christentum die Erlösung ganz ins Verfü-