Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0143
License: In Copyright

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
120 Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum

allen Formen, sinnlich und unsinnlich; der grosse Pomp des Cultus.] Die Liste der
Mittel, mit denen das Christentum sich die Macht über die Barbaren angeeignet
haben soll, wirft Schwierigkeiten auf: „Bluttrinken im Abendmahl" (189, 10;
vgl. AC 58, KSA 6, 246, 20 sowie die Wellhausen-Exzerpte NL 1887/88, KSA 13,
11[292], 113 = KGW IX 7, W II 3, 88, 46-56-89, 57 und KSA 13, 11[293], 113 f. =
KGW IX 7, W II 3, 89, 36-42), „Pomp des Cultus" (189, 12) und „Folterung in
allen Formen" (189, 11) mag man als Topoi des aufklärerischen Antiklerikalis-
mus auf sich beruhen lassen, ebenso die dem Christentum in all seinen Phasen
ohnehin unterschobene „Verachtung des Geistes und der Cultur" (189, 10 f.).
Die Erwähnung des „Erstlingsopfers", eine in den altorientalischen Reli-
gionen verbreitete Erscheinung (was N. sehr wohl weiß, vgl. JGB 55, KSA 5, 74,
5 f.), für die es im Alten Testament diverse Belege gibt, die sich aber durch das
Opfer Christi nach christlicher Vorstellung erledigt hat, ist hingegen erläute-
rungsbedürftig. Die im Hintergrund stehende religionsgeschichtliche Theorie
hat N. sich bei Julius Lippert angelesen: „Es ist nicht zu verkennen, dass das
Christenthum dadurch, dass es ein überall bestellbares ,Opfer' mit sich
brachte, das einerseits in die grausigsten Gefühle der Vorzeit zurückgriff, und
andererseits dem Uropfer die in Betreff der Ansprüche an den Menschen mil-
deste ,Lösung' gab, für das so grossgezogene Bedürfniss des Menschen unend-
lich Vieles gewährte und Viele versöhnte. Das christliche ,Opfer' — dieser Ter-
minus gilt ja noch — ist an sich ein wirkliches, entsetzlich hohes und blutiges
Opfer, das allerhöchste aller schweren Opfer, das nach der Empfindung des in
jenem Gedankenkreise erwachsenen Menschen die Macht haben musste, jede
Sühne zu vollbringen — das uralte Opfer des Erstgeborenen, und zwar,
was nicht mehr überboten werden kann, des Erstgeborenen des Stammvaters
aller Welt. Aber dieses eine, einmal wirklich und blutig gebrachte Opfer ist
zugleich aller Opfer Lösung, es ist die letzte und bedeutungsvollste Lösung —
wie sie ja die Kirche selbst ganz treffend dem Abrahamsopfer als einem schwa-
chen ,Vorbilde' gegenüberstellt. An diesem Opfer und seiner Sühnkraft durch
eine nur sinnbildliche, unblutige und durch das Wunder zur Realität gehobene
Wiederholung theilzunehmen, theilzunehmen am Bundesmahl in der Form der
alten Opfermahle, das war die Lehre von einem neuen grossen Heilthum, wie
sie nach vielen Seiten hin befriedigen musste. Für die Kunde von der milden
Lehre Jesu, seinem Wandel und seinem Tode hatte die Welt in ihrer Noth und
eitlen Glückshast kein Ohr, aber in der von Paulus so glücklich erfassten Opfer-
und Erlösungstheorie schossen alle schwebenden Vorstellungen wie zu einem
Krystalle zusammen, dessen Glanz viele nach ihrem Heile ausschauende
Augen traf. Nicht minder konnte die Entdeckung der grossen vorgeschichtli-
chen Erbschuld der Menschheit, als der nothwendigen Kehrseite der Erlö-
sungstheorie, auf ein vorbereitetes Verständniss rechnen. In dieser Auffassung
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften