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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0148
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Stellenkommentar AC 23, KSA 6, S. 190 125

son Jesus, pour le type le plus aimable et le plus aimant qu'ait jamais congu
l'esprit humain." (Die ersten drei Zeilen von N. am Rand mit Strich und Frage-
zeichen markiert; „beau" von ihm unterstrichen. „Im Christentum begünstigt
die Vorstellung von Jesus, diesem schönen und sanften Jüngling, der den Geist
in seiner reinsten und idealsten Form verkörpert, mehr als in anderen Religio-
nen diese Umleitung der Liebe. Dies ist der anthropomorpheste Glaube, der
existiert, denn es ist derjenige, der, nachdem er sich von Gott die höchste
Vorstellung gemacht hat, ihn in den menschlichsten Zustand herabsetzt, ohne
ihn zu entwürdigen. Durch ein viel raffinierteres Heidentum, das viel tiefer
war als das antike Heidentum, gelang es der christlichen Religion, aus Gott
ein Objekt der brennendsten Liebe zu machen, ohne zu unterlassen, aus ihm
ein Objekt des Respekts zu machen. Ein weit verlockenderer und poetischerer
Mythos als selbst der Mythos von Psyche: Wir sehen Gott, den wahren Gott,
auf die Erde herabgestiegen als blonden und lächelnden Jüngling; wir hören
ihn ganz leise in Maria Magdalenas Ohr flüstern zu Beginn des Abends; dann
verschwindet die Vision plötzlich, und wir machen im Schatten bloß zwei auf-
gerissene Arme aus, die sich nach uns strecken, ein Herz, das für die Mensch-
heit blutet. In dieser Legende sind alle Möglichkeiten der Vorstellung ausge-
schöpft worden, alle inneren Fasern /102/ werden bewegt: es ist ein vollendetes
Kunstwerk. Wie kann es erstaunen, dass Christus ein großer Verführer der See-
len war und noch ist? Bei einem jungen Mädchen erweckt sein Name gleichzei-
tig alle Instinkte, bis zum Mutterinstinkt, denn Jesus wird oft als Kind abgebil-
det mit denselben schwülstigen und rosigen Gesichtszügen, mit welchen die
Griechen Eros malten. Das Herz der Frau wird dadurch von allen Seiten gleich-
zeitig erobert: Ihre unsichere und furchtsame Einbildungskraft verweilt je
nachdem auf dem Cherubim, auf dem Epheben oder auf dem bleichen Gekreu-
zigten, dessen Kopf am Kreuz entlang nach unten gefallen ist. Seit der Geburt
des Christentums bis heute hat es vielleicht keine Frau mit exaltierter Frömmig-
keit gegeben, deren erster und kaum bewusster Herzschlag nicht für ihren Gott,
ihren Jesus, für den liebsten und liebendsten Typus geschlagen hätte, den der
menschliche Geist je geschaffen hat.")
Dem Adonis-Kult ist N. in der religionswissenschaftlichen Literatur schon
bei der Vorbereitung seiner Basler Vorlesung Der Gottesdienst der Griechen gele-
gentlich begegnet, vgl. Orsucci 1996, 117 u. 128-130. In Renans Marc-Aurele et
la fin du monde antique ist im Zusammenhang mit dem religiösen Synkretismus
der Spätantike auch vom Adonis-Kult die Rede als dem Boden, den das Chris-
tentum betrat. Vgl. z. B. Renan 1882, 574 f.: „Une foule d'autres dieux etaient
accueillis sans opposition, avec bienveillance meme. La Junon /575/ celeste, la
Bellone asiatique, Sabazius, Adonis, la deesse de Syrie avaient leurs fideles.
Les soldats etaient le vehicule de ces cultes divers" (als Beleg für den Adonis-
 
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