300 Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum
sance, — meine Frage ist ihre Frage —: es gab auch nie eine grundsätzlichere,
eine geradere, eine strenger in ganzer Front und auf das Centrum los geführte
Form des Angriffs! An der entscheidenden Stelle, im Sitz des Christenthums
selbst angreifen, hier die vornehmen Werthe auf den Thron bringen, will sagen
in die Instinkte, in die untersten Bedürfnisse und Begierden der daselbst Sitzen-
den hin einbringen...] Die Renaissance wird als eine in sich völlig homogene,
auf Antichristentum eingeschworene Erscheinung taxiert. Dies widerspricht
dem Befund in N.s Hauptquelle, Jacob Burckhardts Kultur der Renaissance in
Italien (zum Einfluss Burckhardts auf N.s spätes Renaissance- und Reformati-
onsbild vgl. Andler o. J., 144-154, Farulli 1990a u. 1990b, 55-57 sowie ausführ-
lich Ruehl 2008). Der 6. Abschnitt über „Sitte und Religion" hat dort die höchst
widersprüchlichen Kräfte im Geistes- und Seelenleben der Renaissance
beschrieben. Nach Burckhardt hatten sich keineswegs sämtliche maßgeblichen
Köpfe der Zeit zu dezidierter Christentumsfeindschaft bekannt. Vielmehr habe
die Enttäuschung über den desolaten sittlichen Zustand der Kirche viele in
einen antikisierenden Theismus, in Deismus oder Skepsis getrieben. Gerade
der zunächst große Erfolg Savonarolas (vgl. AC 54, KSA 6, 237, 14) verdeutlicht,
dass die sogenannte Renaissance ihrer antichristlichen Stoßrichtung gar nicht
so sicher war, wie N. ihr unterstellt. Das vielschichtige und vielgesichtige Phä-
nomen Renaissance, wie es bei Burckhardt erscheint, wird in AC 61 auf einen
einzigen Nenner zusammengekürzt. In AC 61 hat sich auch die Rolle gewan-
delt, die die Deutschen im weltgeschichtlichen Drama spielen. Waren sie in
AC 60 noch Komparsen, die sich mit den Kreuzzügen in „höhere[r] Seeräube-
rei" (249, 25) gefielen und sich als Handlanger der Kurie verdingten, haben sie
nun ins Charakterfach der Kapitalverbrecher an der abendländischen Kultur
gewechselt. Mit der Reformation, dem konsolidierten Protestantismus und der
deutschen Philosophie (vgl. NK 251, 27-252, 8) sind die Deutschen zu den Ban-
nerträgern des Christentums geworden, das ohne ihre Hilfe nicht weiterbestan-
den hätte.
250, 24-29 Es gab bisher nur diesen grossen Krieg, es gab bisher keine ent-
scheidendere Fragestellung als die der Renaissance, — meine Frage ist ihre
Frage —: es gab auch nie eine grundsätzlichere, eine geradere, eine strenger in
ganzer Front und auf das Centrum los geführte Form des A ngriffs !] Das spre-
chende Ich liest hier die Weltgeschichte auf sein eigenes Problem hin und
verwischt dabei allfällige Grenzen zwischen Interpretation und Faktizität, in
der strategischen Umkehrung der perspektivistischen Losung, alles sei Inter-
pretation, nämlich unterstellend, alles, was das „Ich" für wahr hält, sei wahr,
sei Tatsache. Das Verhältnis zur Renaissance ist nicht bloß durch eine Burck-
hardtsche Sympathie oder durch eine Parteinahme für antimittelalterliche
Anliegen gekennzeichnet. Vielmehr findet eine vollständige Identifikation
sance, — meine Frage ist ihre Frage —: es gab auch nie eine grundsätzlichere,
eine geradere, eine strenger in ganzer Front und auf das Centrum los geführte
Form des Angriffs! An der entscheidenden Stelle, im Sitz des Christenthums
selbst angreifen, hier die vornehmen Werthe auf den Thron bringen, will sagen
in die Instinkte, in die untersten Bedürfnisse und Begierden der daselbst Sitzen-
den hin einbringen...] Die Renaissance wird als eine in sich völlig homogene,
auf Antichristentum eingeschworene Erscheinung taxiert. Dies widerspricht
dem Befund in N.s Hauptquelle, Jacob Burckhardts Kultur der Renaissance in
Italien (zum Einfluss Burckhardts auf N.s spätes Renaissance- und Reformati-
onsbild vgl. Andler o. J., 144-154, Farulli 1990a u. 1990b, 55-57 sowie ausführ-
lich Ruehl 2008). Der 6. Abschnitt über „Sitte und Religion" hat dort die höchst
widersprüchlichen Kräfte im Geistes- und Seelenleben der Renaissance
beschrieben. Nach Burckhardt hatten sich keineswegs sämtliche maßgeblichen
Köpfe der Zeit zu dezidierter Christentumsfeindschaft bekannt. Vielmehr habe
die Enttäuschung über den desolaten sittlichen Zustand der Kirche viele in
einen antikisierenden Theismus, in Deismus oder Skepsis getrieben. Gerade
der zunächst große Erfolg Savonarolas (vgl. AC 54, KSA 6, 237, 14) verdeutlicht,
dass die sogenannte Renaissance ihrer antichristlichen Stoßrichtung gar nicht
so sicher war, wie N. ihr unterstellt. Das vielschichtige und vielgesichtige Phä-
nomen Renaissance, wie es bei Burckhardt erscheint, wird in AC 61 auf einen
einzigen Nenner zusammengekürzt. In AC 61 hat sich auch die Rolle gewan-
delt, die die Deutschen im weltgeschichtlichen Drama spielen. Waren sie in
AC 60 noch Komparsen, die sich mit den Kreuzzügen in „höhere[r] Seeräube-
rei" (249, 25) gefielen und sich als Handlanger der Kurie verdingten, haben sie
nun ins Charakterfach der Kapitalverbrecher an der abendländischen Kultur
gewechselt. Mit der Reformation, dem konsolidierten Protestantismus und der
deutschen Philosophie (vgl. NK 251, 27-252, 8) sind die Deutschen zu den Ban-
nerträgern des Christentums geworden, das ohne ihre Hilfe nicht weiterbestan-
den hätte.
250, 24-29 Es gab bisher nur diesen grossen Krieg, es gab bisher keine ent-
scheidendere Fragestellung als die der Renaissance, — meine Frage ist ihre
Frage —: es gab auch nie eine grundsätzlichere, eine geradere, eine strenger in
ganzer Front und auf das Centrum los geführte Form des A ngriffs !] Das spre-
chende Ich liest hier die Weltgeschichte auf sein eigenes Problem hin und
verwischt dabei allfällige Grenzen zwischen Interpretation und Faktizität, in
der strategischen Umkehrung der perspektivistischen Losung, alles sei Inter-
pretation, nämlich unterstellend, alles, was das „Ich" für wahr hält, sei wahr,
sei Tatsache. Das Verhältnis zur Renaissance ist nicht bloß durch eine Burck-
hardtsche Sympathie oder durch eine Parteinahme für antimittelalterliche
Anliegen gekennzeichnet. Vielmehr findet eine vollständige Identifikation