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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0329
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306 Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum

sehen Beurteilung, sondern auch der Verachtung preisgegeben. An Luther
kann das exemplifiziert werden, was vorher in der „Psychologie des Glaubens"
theoretisch ausgeführt worden ist. Immerhin wird Luther, im Unterschied zu
Paulus, als ein „religiöser Mensch" qualifiziert — ihm wird, abgesehen von der
dem Christentum prinzipiell innewohnenden Unredlichkeit, keine persönliche
Unredlichkeit unterstellt.
Luther als „unmöglicher Mönch" in EH WA 2, KSA 6, 359, 29 ist ein Selbstzi-
tat N.s, nämlich aus FW 358, KSA 3, 604, 19. Der Aphorismus behandelt unter
dem Titel „Der Bauernaufstand des Geistes" (602, 19) Luthers „Hass
auf den ,höheren Menschen' und die Herrschaft des ,höheren Menschen', wie
ihn die Kirche concipirt hatte" (604, 14-16). Die Stellen in AC und EH gründen
auf diesem Passus aus FW, mit der bezeichnenden Differenz allerdings, dass
die mittelalterliche Kirche in den beiden jüngeren Werken keineswegs mehr
als ein Zuchtort des „höheren Menschen" dasteht. Von Renaissance ist in FW
358 keine Rede; Luthers Opposition richtet sich dort gegen die mittelalterliche
Kirche, die damit in sehr viel besserem Licht dasteht als etwa in AC 60.
FW 358 ist als Kontrastfolie zu AC 61 und EH WA 2 ohnehin aufschluss-
reich. Der Aphorismus ist im fünften, erst 1887 publizierten Buch des Werkes
erschienen und also gar nicht wesentlich älter als die beiden anderen Stellen.
Am Anfang steht zu lesen: „Aber was das Wunderlichste ist: Die, welche sich
am meisten darum bemüht haben, das Christenthum zu halten, zu erhalten,
sind gerade seine besten Zerstörer geworden, — die Deutschen." (KSA 3, 602,
33-603, 3) N. übernimmt hier die römisch-katholische Version der Reformati-
onsgeschichte, wie sie Johannes Janssen in seiner Geschichte des deutschen
Volkes entworfen hat, für den Luther mit „Anarchisten" wie Ulrich von Hutten
oder Franz von Sickingen die Revolution gegen die heile Ordnung der mittelal-
terlichen Welt angezettelt hatte. Die Lesart der Geschichte in FW 358 unter-
scheidet sich von Janssen lediglich dadurch, dass sie die mittelalterliche Welt
nicht ganz so eindeutig positiv besetzt, obwohl gerade in diesem Aphorismus
der „Bau" der mittelalterlich-katholischen Kirche beschrieben wird als ruhend
„auf einer südländischen Freiheit und Freisinnigkeit des Geistes und
ebenso auf einem südländischen Verdachte gegen Natur, Mensch und Geist, —
er ruht auf einer ganz andren Kenntniss des Menschen, Erfahrung vom Men-
schen, als der Norden gehabt hat. Die Lutherische Reformation war in ihrer
ganzen Breite die Entrüstung der Einfalt gegen etwas ,Vielfältiges', um vorsich-
tig zu reden, ein grobes biederes Missverständniss, an dem Viel zu verzeihen
ist, — man begriff den Ausdruck einer siegreichen Kirche nicht und sah
nur Corruption, man missverstand die vornehme Skepsis, jenen Luxus von
Skepsis und Toleranz, welchen sich jede siegreiche selbstgewisse Macht gestat-
tet..." (603, 5-17) Die spätmittelalterliche Kirche („das Christenthum — es war
 
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