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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0332
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Stellenkommentar AC 61, KSA 6, S. 251 309

haben alle Halbheiten — Drei-Achtelsheiten! — auf dem Gewissen, an denen
Europa krank ist, — sie haben auch die unsauberste Art Christenthum, die es
giebt, die unheilbarste, die unwiderlegbarste, den Protestantismus auf dem
Gewissen... Wenn man nicht fertig wird mit dem Christenthum, die Deutschen
werden daran schuld sein...] Vgl. die Vorarbeit in NL 1888, KSA 13, 22[9], 587.
An Overbeck schrieb N. über die Fertigstellung des ersten Buches der Umwer-
thung aller Werte am 18. 10. 1888: „Dies Mal führe ich, als alter Artillerist, mein
großes Geschütz vor: ich fürchte, ich schieße die Geschichte der Menschheit
in zwei Häften aus einander. [...] Gegen die Deutschen gehe ich darin in
ganzer Front vor: Du wirst Dich nicht über ,Zweideutigkeit' zu beklagen haben.
Diese unverantwortliche Rasse, die alle großen malheurs der Cultur auf dem
Gewissen hat und in allen entscheidenden Momenten der Geschichte
etwas ,Andres' im Kopfe hatte (— die Reformation zur Zeit der Renaissance;
Kantische Philosophie, als eben eine wissenschaftliche Denkweise in
England und Frankreich mit Mühe erreicht war; ,Freiheits-Kriege' beim Erschei-
nen Napoleon's, des Einzigen, der bisher stark genug war, aus Europa eine
politische und wirthschaftliche Einheit zu bilden —) hat heute ,das
Reich', diese Recrudescenz der Kleinstaaterei und des Cultur-Atomismus, im
Kopfe, in einem Augenblicke, wo die große Werthfrage zum ersten Mal
gestellt wird. Es gab nie einen wichtigeren Augenblick in der Geschichte: aber
wer wüßte Etwas davon?" (KSB 8, Nr. 1132, S. 453 f., Z. 14-42).
Wenn es in AC bislang hieß, das Christentum sei schuld an allen Übeln
dieser Welt, so rücken nun die Deutschen in diese zweifelhafte Ehrenstellung
auf. Schon AC 10 hat die Leserinnen und Leser ja wissen lassen, dass die
deutsche Philosophie seit Leibniz (dort — KSA 6, 177, 4 — noch mit „tz"
geschrieben) und Kant „ein Hemmschuh mehr in der an sich nicht taktfesten
deutschen Rechtschaffenheit" (177, 4 f.) gewesen sei. Nun aber wird die Schmä-
hung mit Jähzorn befeuert, so dass sich für die Leser keinerlei Identifikations-
rest mit Deutschen und Deutschem mehr bietet. Dem zitierten Brief an Over-
beck verdanken sich klarere Hinweise darauf, was als Gegenstück zu den
jeweiligen deutschen „Umsonst" in der Geschichte Europas stattgefunden
habe: Die Aufklärungsphilosophie und die Wissenschaften in Großbritannien
und Frankreich versus Leibniz und Kant, Napoleon und die Einigung Europas
versus „Freiheits-Kriege" und schließlich die antichristliche Umwertung versus
Zweites Deutsches Kaiserreich.
Man meint bei dieser Hochschätzung der Aufklärung wiederum den N. der
frühen Freigeistphase zu hören — und auch der Eindruck, den Napoleon in
dieser Zusammenstellung hinterlässt, ist zwiespältig. Natürlich kann man in
ihm den großen Machtmenschen sehen, der Europa zu einem neuen Imperium
vereinigt. Napoleon verbreitete in Europa aber auch die Ideen der Französi-
 
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