Stellenkommentar AC 62, KSA 6, S. 251-252 311
scheint, nämlich die (Re-)Installation einer antiegalitären, auf „Naturgegeben-
heiten" beruhenden Ordnung, würde zwar politische Konsequenzen haben —
welche, ist jedoch nicht abzusehen. Politisch bleibt AC am Ende unverbind-
lich — obwohl er dem Anspruch nach eine politische Schrift sein will. Siegesge-
wiss klingt jedenfalls der Schlusssatz des Paragraphen nicht, wenn er es in
einer indikativischen Formulierung für möglich hält, dass man mit dem Chris-
tentum „nicht fertig wird".
251, 27-32 Ah diese Deutschen, was sie uns schon gekostet haben! Umsonst —
das war immer das Werk der Deutschen. — Die Reformation; Leibniz; Kant und
die sogenannte deutsche Philosophie; die Freiheits-Kriege; das Reich — jedes
Mal ein Umsonst für Etwas, das bereits da war, für etwas Unwiederbringli-
ches] Vgl. demgegenüber Wagners kontradiktorische Verlautbarung bei Nohl
o. J., 87, zitiert in NK KSA 6, 62, 20 f.
62
252, 10-15 Hiermit bin ich am Schluss und spreche mein Urtheil. Ich verur-
theile das Christenthum, ich erhebe gegen die christliche Kirche die furcht-
barste aller Anklagen, die je ein Ankläger in den Mund genommen hat. Sie ist
mir die höchste aller denkbaren Corruptionen, sie hat den Willen zur letzten auch
nur möglichen Corruption gehabt.] 252, 10-15 kommt nach den Invektiven gegen
die Deutschen in AC 61 recht unvermittelt. Überdies kündigt der Passus etwas
an, was AC 62 eigentlich gar nicht liefert, nämlich einen Urteilsspruch gegen
das Christentum. Am Ende steht nur eine kolossale Anklage. Die ersten Sätze
von AC 62 nehmen für den Ankläger jenes Recht in Anspruch, über das er
nach landläufiger Auffassung nicht verfügt, nämlich selber das Urteil zu spre-
chen. Dieser Habitus samt der Assoziation „Jüngstes Gericht" kommt schon in
GT 19, KSA 1, 128, 5-7 vor. Das Überhandnehmen forensischer Kategorien in AC
62 lässt den Kampf gegen das Christentum als Schauprozess, als säkularisiertes
Jüngstes Gericht erscheinen. Die Art, wie darin der Ankläger mit dem Richter
koinzidiert und alles Recht auf Verteidigung ignoriert, ist wohl als Exempel
einer Werthaltung zu verstehen, mit der das sprechende Ich vollkommene Sou-
veränität für sich reklamiert. Das Ich verurteilt das Christentum zwar, aber es
wird nicht zu etwas verurteilt — nicht einmal zum Nicht-Sein. Das Urteil besagt
nur, es sei die schlimmste aller Verderbnisse. Im Unterschied zu „Korruptio-
nen" sonst in N.s Werk trägt die christliche nämlich keinerlei Keime eines posi-
tiven Neubeginns in sich (vgl. Reschke 1992, 159).
252, 18 f. Man wage es noch, mir von ihren „humanitären" Segnungen zu reden!]
Wie z. B. — keineswegs christlich-apologetisch — Hellwald 1877a, 2, 8: „Ueber-
scheint, nämlich die (Re-)Installation einer antiegalitären, auf „Naturgegeben-
heiten" beruhenden Ordnung, würde zwar politische Konsequenzen haben —
welche, ist jedoch nicht abzusehen. Politisch bleibt AC am Ende unverbind-
lich — obwohl er dem Anspruch nach eine politische Schrift sein will. Siegesge-
wiss klingt jedenfalls der Schlusssatz des Paragraphen nicht, wenn er es in
einer indikativischen Formulierung für möglich hält, dass man mit dem Chris-
tentum „nicht fertig wird".
251, 27-32 Ah diese Deutschen, was sie uns schon gekostet haben! Umsonst —
das war immer das Werk der Deutschen. — Die Reformation; Leibniz; Kant und
die sogenannte deutsche Philosophie; die Freiheits-Kriege; das Reich — jedes
Mal ein Umsonst für Etwas, das bereits da war, für etwas Unwiederbringli-
ches] Vgl. demgegenüber Wagners kontradiktorische Verlautbarung bei Nohl
o. J., 87, zitiert in NK KSA 6, 62, 20 f.
62
252, 10-15 Hiermit bin ich am Schluss und spreche mein Urtheil. Ich verur-
theile das Christenthum, ich erhebe gegen die christliche Kirche die furcht-
barste aller Anklagen, die je ein Ankläger in den Mund genommen hat. Sie ist
mir die höchste aller denkbaren Corruptionen, sie hat den Willen zur letzten auch
nur möglichen Corruption gehabt.] 252, 10-15 kommt nach den Invektiven gegen
die Deutschen in AC 61 recht unvermittelt. Überdies kündigt der Passus etwas
an, was AC 62 eigentlich gar nicht liefert, nämlich einen Urteilsspruch gegen
das Christentum. Am Ende steht nur eine kolossale Anklage. Die ersten Sätze
von AC 62 nehmen für den Ankläger jenes Recht in Anspruch, über das er
nach landläufiger Auffassung nicht verfügt, nämlich selber das Urteil zu spre-
chen. Dieser Habitus samt der Assoziation „Jüngstes Gericht" kommt schon in
GT 19, KSA 1, 128, 5-7 vor. Das Überhandnehmen forensischer Kategorien in AC
62 lässt den Kampf gegen das Christentum als Schauprozess, als säkularisiertes
Jüngstes Gericht erscheinen. Die Art, wie darin der Ankläger mit dem Richter
koinzidiert und alles Recht auf Verteidigung ignoriert, ist wohl als Exempel
einer Werthaltung zu verstehen, mit der das sprechende Ich vollkommene Sou-
veränität für sich reklamiert. Das Ich verurteilt das Christentum zwar, aber es
wird nicht zu etwas verurteilt — nicht einmal zum Nicht-Sein. Das Urteil besagt
nur, es sei die schlimmste aller Verderbnisse. Im Unterschied zu „Korruptio-
nen" sonst in N.s Werk trägt die christliche nämlich keinerlei Keime eines posi-
tiven Neubeginns in sich (vgl. Reschke 1992, 159).
252, 18 f. Man wage es noch, mir von ihren „humanitären" Segnungen zu reden!]
Wie z. B. — keineswegs christlich-apologetisch — Hellwald 1877a, 2, 8: „Ueber-