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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0336
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Stellenkommentar AC 62, KSA 6, S. 252-253 313

und der Gleichheit vor Gott verwischt. Man könnte ja — wie man es im christli-
chen Mittelalter getan hat — aus der Lehre von der Seelengleichheit durchaus
auch das Gegenteil folgern: Die „Gleichheit der Seelen vor Gott" kann ein Argu-
ment gegen die Aufhebung von gesellschaftlichen Ungleichheiten sein, weil ja
im Jenseits abgerechnet und je nach Bewährung im vorausgegangenen Erden-
leben belohnt oder bestraft werde. Dass im ursprünglichen Christentum ein
sozialrevolutionäres Feuer gelodert haben mag, wird damit nicht bestritten;
ebensowenig, dass die Seelengleichheitslehre im Laufe der Kirchengeschichte
zuweilen antihierarchische Bewegungen angespornt hat. Nur insinuiert die von
AC 62 aufgestellte Gleichung, dass „moderne Idee", „Revolution", „Nieder-
gangs-Princip der ganzen Gesellschafts-Ordnung" zwangsläufig aus der Dok-
trin von der Gleichheit aller vor Gott resultieren. Die Unbekannte bei dieser
Gleichung ist jedoch das Gegebene, nämlich die Seelengleichheitslehre selber.
Prinzipiell lässt sie sich für alle Zwecke benutzen, wobei sie die bestehenden
Verhältnisse genauso gutheißen wie entzweibrechen kann. Dies hängt davon
ab, wo der Akzent liegt: auf „Gleichheit der Seelen" oder auf „vor Gott".
Solange das „vor Gott" Bestandteil des Terms bleibt, ist daraus eine prinzipiell
und unter allen Bedingungen anarchistische oder auch nur egalitaristische
Theorie schlechterdings nicht deduzierbar. Bei Paul de Lagarde hatte N. einst
zur Kenntnis genommen, dass „Humanität" und „Christenthum" ursprünglich
wenig miteinander zu schaffen gehabt hätten, vgl. NL 1884, KSA 11, 26[4], 151
u. Sommer 1998b, 187-189.
252, 24 „Gleichheit der Seelen vor Gott"] In der deutschen Ausgabe von Charles
Forbes de Tryon, Graf von Montalemberts Les moines d'Occident, die N. Anfang
1887 las (vgl. N. an Overbeck, 23. 02. 1887, KSB 8, Nr. 804, S. 28), heißt es zu
Isidor von Sevillas Schrift über die Pflichten der Mönche: „Wir erhalten diese
Nachricht in herrlichen, erhabenen Worten voll Weisheit, in welchen, bündiger
und beredter als sonst irgendwo, die Lehre von der Gleichheit der Seelen vor
Gott [...] ausgesprochen ist" (Montalembert 1860, 2, 212).
252, 28 christlicher Dynamit] Das schließt an die in AC 57 und 58 behaup-
tete Nähe von Anarchismus und Christentum an: Die Anarchisten wurden in
den 1880er Jahren insbesondere mit Dynamit-Attentaten in Verbindung
gebracht, vgl. NK KSA 6, 132, 17. Die Identifikation der anarchistischen Triebe
des Christentums mit „Dynamit" wirkt als Bild hier wenig überzeugend, denn
bisher galt für N. die Heimtücke der langsamen Zersetzung, des Vampirismus,
des Wurmfraßes als die eigentliche Gefahr des Christentums. Vgl. zur Dynamit-
Metapher NK KSA 6, 365, 7 f.
253, 1 Parasitismus] Vgl. NK 195, 20 f.
 
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