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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0338
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Stellenkommentar AC, KSA 6, S. 253 315

ist. Das Ende des Christentums, so die Suggestion, wird mit derselben Zwangs-
läufigkeit eintreten wie Belsazars und seines Reiches Ende. Wie im Falle des
Königs von Babylon stellt die antichristliche Wandinschrift aber nicht nur eine
Unheilsverkündigung und ein Urteil, sondern zugleich eine implizite Hand-
lungsanweisung dar: „Aber in derselben Nacht ward der Chaldäer König Belsa-
zar getötet" (Daniel 5, 30).
Im Unterschied zum Menetekel des Belsazar ist die antichristliche Wandin-
schrift für jeden Aufgeklärten, ja für jeden „Blinden" lesbar. Die Heilung von
Blinden gehört zu den Lieblingsepisoden, die die Evangelisten von Jesu Wun-
derwirken zu berichten wissen (z. B. Matthäus 9, 27-31; Johannes 9, 1-41).
Gegen die „blinden Blindenleiter" (Matthäus 15, 14), die im antichristlichen
Kontext nicht länger die Pharisäer, sondern die christlichen und parachristli-
chen „Priester" sind, meint der Schreiber mit seinen feurigen Buchstaben
etwas auszurichten — „wenn aber ein Blinder den andern leitet, so fallen sie
beide in die Grube" (Matthäus 15, 14). Das antichristliche „Ich" will mit dem
Tag, an dem es AC 62 niederschreibt, ein neues Kapitel der Weltgeschichte
aufschlagen. Dieser Tag, der 30. September 1888 christlicher Zeitrechnung, an
dem N. die Niederschrift von AC abschloss, erscheint als der Jüngste Tag des
Christentums, als Tag, an dem mit AC die Anklage- und Urteilsschrift entsie-
gelt, verlesen und in Kraft gesetzt wird. Dennoch unterbleibt im Unterschied
zu GWC, KSA 6, 254, 3 in AC 62 eine direkte Datierung. Der Jüngste Tag des
Christentums hätte beispielsweise auch erst im Jahre 1890 der falschen Zeit-
rechnung eintreten können, soweit nach EH WA 4, KSA 6, 363 f. die „Umwer-
thung" erst für diese Zeit angekündigt war. Die letzten fünf Zeilen des Textes
von AC 62 (253, 16-20) wurden in den ersten Ausgaben von AC (GoAK und
GoA) unterdrückt und erscheinen erst ab 1899 in den AC-Editionen.
253, 13 f. den Einen grossen Instinkt der Rache, dem kein Mittel giftig, heimlich,
unterirdisch, klein genug ist] Vgl. NK KSA 6, 310, 28-30.
253, 16 dies nefastus] An den dies nefasti, den „gesperrten Tagen" waren im
Alten Rom Markt, Versammlungen und Gerichtsverhandlungen verboten. Die
dies nefasti publici waren religiöse Feiertage. N. scheint den (angeblichen)
Geburtstag Jesu Christi entweder etwas unscharf als einen Unglückstag sehen
oder aber ihn als „nefastus" bewusst dem Gerichtstag von AC 62 entgegenset-
zen zu wollen. In dem von N. benutzten Lateinwörterbuch wird unter
„Unglückstag" explizit auch „dies nefastus" gelistet (Georges 1861, 2, 1472).
Gesetz wider das Christenthum
Mit AC 62 schließt der Haupttext von AC, ohne dass unzweifelhaft klar wäre,
was N. als Schluss ursprünglich vorgesehen hatte. Nach dem letzten Satz des
 
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